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sich verkehrt, so wird sie bei den Kindern leicht zuerst einseitige Vergötterung und dann erkaltet sie.

 Darum spricht der große Seelenkenner, unser Herr und Gott: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.

Denn es kommen Stunden, in denen die natürliche Liebe nimmer vorhält, aber das Gebot der Pflicht trägt über solch schwere Stunden hinweg und empor. Es kommen Tage, wo das Kind an seinen Eltern so wenig Liebenswertes mehr entdeckt: meine Mutter hat gelogen, mein Vater hat mich getäuscht. Ach, wie oft verspricht die Mutter gedankenlos dem Kinde etwas und vergißt es, und das Kind wartet stunden- ja tagelang, doch die Mutter löst das Versprechen nicht ein und das Kind ist verwundet: auch der treueste Mensch hat sein Vertrauen getäuscht!

 Und manch ein Vater verheißt dem Kinde den Sonntagsspaziergang, ein kleines Andenken; dann geht er dahin und lächelt für sich, daß es ihm so leicht gelang, dem Kinde gut zu reden. Und das Kind freut sich und wartet und der Vater entschlägt sich seines Wortes. Da hört die Liebe auf, da beginnt die Ehre. Und wenn wir herangewachsen waren und an den Liebsten die Sonnenflecken bemerkten, an den Menschen, für die wir unser Leben wagten, auch allerlei Unebenheiten sahen und wenn wir, nachprüfend und nachforschend, wehmütig und schweren Herzens, gestehen mußten: auch unsere Eltern sind fehlsam und sündig! dann hebt die Ehre an. Liebe sieht immer nur Sonne; Ehre muß, auch wenn die Sonne schwindet, bleiben. Liebe gibt immer Genuß, Ehre aber heißt den Charakter erstarken. Lieben kann man, auch wenn man nicht muß; ehren aber erfordert Selbstüberwindung. Darum: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.

 Gott verleihe, daß unser armes Volk, ehe es ganz zu Ende geht, noch einmal die Familie erbauen lerne, die