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So tief sind die Abgründe in dir und so wenig tief bei deinem Nächsten; und wenn sie noch so tief wären, an die deinen reichen sie nicht hinan. Von Franz v. Assisi wird erzählt, er habe sich nie einreden lassen, daß ein Mensch schlechter sei, als er. Denke oft daran, wie Gott dich täglich entlarven könnte und wie gnädig Er dich bedeckt und entschuldigt.

 Aber wie soll ich denn meine Zunge zähmen? Soll ich vorsichtig mit Worten sein, knapp in der Rede? Es wird gut sein, denn wo viele Worte sind, da ist viel Sünde. Gesprächige Leute sind noch mehr in Versuchung als wortkarge. Deine Zunge kannst du nur zähmen mit dem Ernst der Ewigkeit, dem Gedanken an die große Entscheidung des Gerichts.

 Jedes Jahr versenke ich mich in das Bild des reichen Mannes: wie arm war er und wußte es nicht; wie war er so zeitfroh und so ewigkeitsfremd. Wie viele, oder auch wie wenige denken an das, was sein wird, wenn sie nicht mehr sind; wie viele oder wie wenige haben den Ernst vor Augen und im Herzen, was es heißt: Gott gegenüber allein sein, im Gericht stehen, nicht mehr umkehren können, nicht mehr zur Seite blicken können, um sich von anderen trösten zu lassen, ganz allein dem Herrn Rede stehen und ganz allein dem Herrn fallen oder bleiben zu müssen. Wenn mehr Ewigkeitsernst unter uns wäre, mehr Zeitkraft bei uns, wenn wir mehr an den Ernst der Heimfahrt dächten, dann wären wir rüstiger auf der Wanderung. Es gibt kein Mittel, die Zunge zu zähmen, das wirklich verfinge, nur der Ruf: lehre mich meine Tage zählen, daß ich ein kluges Herz bekomme! Wenn ich jeden Tag als meinen Sterbetag durchlebe, den Schrecken des Todes durchleide, immer in dem Ernst des Gerichtes stehe, dann wird meine Zunge nur zwischen zwei Worten wechseln: erbarme Dich meiner! und: gib mir Frieden!

 So wollen wir von neuem jetzt, wo die festlose und pflichtenreiche Hälfte des Kirchenjahres wieder anhebt, in