Seite:Hermann von Bezzel - Die zehn Gebote.pdf/248

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Ernstes und freundlicher Güte! Es soll nicht, liebe Christen, also sein! Nein, das muß die größte Angst des Lebens werden: mache mich echt! Hilf, daß ich vor mir selber erröte, an jedem Tage über mein Scheinleben erschrecke, damit nicht in der letzten Stunde mir die Augen aufgehen und es ist zu spät! Und wenn dir auf deinem Lebenswege ein Mensch begegnet, der dir die bitterste Wahrheit sagt und das Herz ernstlich überzeugt, der alle deine Vorzüge mit großem, heiligem Ernste zerpflückt – küsse diesem Menschen die Hand! Er scheint ein Räuber deines Glückes und ist dessen Mehrer. Solch ein Mensch ist ein Bote von Gott gesandt, der dich vor dem Abgrunde zurückrufen und retten will. Wehre ihm nicht, sondern danke ihm!

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 Zur Lüge des Scherzes, des Betruges, des Ehrgeizes und des Scheinlebens kommt die Lüge der Eigensucht und Bosheit, die Lüge, vor der unser Katechismus besonders warnt, daß wir unsern Nächsten, wie es im Lateinischen heißt, nicht mit falschen Anschuldigungen überschütten. Bei dir, sagt der große Katechismus, soll alles gülden sein und du willst goldig vor den Leuten gelten, und wer nicht gut von dir redet, ist dein Feind. Und du hast so viel harte Lüge über deinen Nächsten, mit falscher Lüge überschüttest du sein Bild. Den Zug im Leben deines Nächsten, den du so scharf deutest, hat dein Gott als Werk der Heiligung angesehen. Du siehst bloß das „Nicht“ und dein Gott das „Noch nicht!“ Du urteilst bloß über den Mangel, dein Gott schaut das Kampfesspiel an, aus dem dieser Mangel erwachsen. Denke daran, wie barmherzig dein Gott die geringste Blüte in deinem Leben angesehen und den geringsten Vorsatz hat gelten lassen, und hüte dich, daß du nicht deinen Nächsten mit hartem Urteil und falscher Deutung betrübst, ihn tot machst durch deine Kritik! O, wie erwarten wir, daß man bei unserer Beurteilung unsere Umgebung, Erziehung und unsere Verhältnisse berücksichtigt!