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in der Leute Mund herumziehen und ihn nicht mit Schmach überhäufen. Du sprichst von einem möglichen „Vielleicht“, der Nächste sagt schon „wahrscheinlich“, der Dritte sagt „gewiß“. Und dein Bruder ist mit Schmach bedeckt! Besonders Leute mit Scharfblick müssen Gott sehr angehen, daß Er ihnen das milde Herz und das linde Wort schenke; denn der Nächste spürt es und es tut ihm weh. Er ist der Freunde auf Erden ebenso bedürftig als du und du hast sie ihm geraubt; er braucht auch Sonne und du hast sie ihm gewehrt; ihn verlangt nach dem Schatten des guten Namens und du hast ihn zerstört.

 Seht, weil die Elenden verstöret sind und verschmachten, spricht der Herr, so will Ich sie aufrichten. Er will sich derer annehmen, denen wir Ehre und guten Namen raubten, Er steht bei den Verwaisten, Er beschützt die Schutzlosen, Er will der Heimatlosen Vater sein. Schrecklich ist es, wider Gott streiten, furchtbar, ihn zum Feinde zu haben. Ach, wehe der Lüge, sie befreiet nicht!

 Und nun höre ich dich fragen, Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts, der du mit der Freiheit hausieren gehst und so groß von Menschenwürde, von Menschenhoheit und vom Recht der Persönlichkeit und von Frauenehre redest, ist denn Notlüge nicht erlaubt? Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts, der du so groß bist, du fragst nach dem Recht der Notlüge? Der du so viel von dem Recht der Einzelpersönlichkeit sprichst, daß man dieser Einzelpersönlichkeit herzlich satt wird, du fragst, ob man nicht in Not Lügen haben dürfte? Du hast das große System der gesellschaftlichen Lüge reichlich inne und, wenn ich nicht irre, gehört zu dem sogenannten Anstandsunterrichte der gesellschaftliche Ton. Und das Kapitel ist nicht im Himmel geschrieben, sondern in der Hölle. Und es ist eine große, furchtbare Schuld, wenn du deine Dienstboten anlernst, deinen dienstbaren Geistern zumutest, daß sie dich verleugnen, wenn Besuch kommt, daß