Seite:Hermann von Bezzel - Einsegnungs-Unterricht 1909.pdf/9

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 Eine Berufung, Ein Beruf – Ein Ausgang und Ein Ziel; mancherlei Weise dieses Ziel zu erreichen, mancherlei Wege zu der einen großen Erfüllung des Gottesgedankens, mancherlei Art; aber Ein Herr. Denn indem wir von dem Wort Berufung sagen und damit jedem Gedanken wehren, als ob unser Leben irgendwie von Zufälligkeiten abhängig sei, haben wir den andern Gedanken, der vorhin angedeutet wurde, mit hereingenommen: Wohin geht unser Leben? Das merkt man: eine Zeitlang geht das Leben eben fort; es sind, wenn ich so sagen soll, Ansätze im Leben, die gewiß Gott geordnet hat, als ob man hier auf Erden sich ansiedeln, einwohnen dürfte: Das ist die Breite des Lebens, wo der Neigungswinkel fehlt, wo man sich auf dieser Erde einrichtet. Es geht eine Zeitlang in einem gewissen geordneten Gang fort: kleine Unterbrechungen können das Ganze nicht aufhalten noch stören. Mancherlei Einschnitte im Leben sind so unscheinbar, daß sie schnell überwachsen und überwuchert werden; da kommt der Herr auf einmal und gibt dem sich hier ansäßig machen wollenden, den Heimatsinn verlierenden Leben eine Neigung nach abwärts für die Jetztzeit und eine Richtung nach aufwärts für die Ewigkeitswelt. Er hat die Aufgabe an uns übernommen, unserm Leben zur rechten Zeit die Erkenntnis beizubringen, daß es ein Ziel hat und wir davon müssen. Unser Volk sagt sehr tiefsinnig: in den Tag hineinleben, während wir aus dem Tage herausleben müßten. Man bringt sein Leben zu, weil faktisch das Leben uns beherrscht; man richtet jeden Tag so leidlich aus, weil in der Tat der Tag unser Herr geworden ist; aber so darfs nicht sein. Gott der Herr muß unserm Leben ein Ziel geben, und das spüren wir, wie mit den mehrenden Jahren und mit der Minderung der Gabe die Aufgabe wächst. Es ist ein ganz eigentümliches Verhältnis und Verhängnis im Christenleben, daß der treue und allmächtige Gott auf diese Weise uns zur Ewigkeit erzieht, daß Er, wenn man auf der Höhe des Lebens steht, uns wieder von neuem in allerlei Niederungen und Senkungen führt, und daß Er damit das Verlangen zur Ewigkeit, wo Anforderung und Gabe, wo Kraft und Leistung einander völlig entsprechen, erweckt. Wenn also in unserm Herzen die Aufgabe des Christenstandes in ihrer ganzen Größe, in ihrer alles hineinnehmenden Bedeutung, in ihrer alles umfassenden Wichtigkeit und Wirklichkeit eingeht, dann sehen wir, es reicht der Ort nicht mehr, da wir’s ausrichten und die Zeit reicht nicht mehr hin, in der wir’s ausrichten; je mehr wir das einzelne erfassen wollen, desto mehr entschwindet die Gesamtarbeit und je mehr wir der Gesamtarbeit nachgehen, desto mehr vergeht das einzelne. Wir