Seite:Hermann von Bezzel - Festpredigt und Rede gehalten bei der Einweihung des Maria-Martha-Stifts mit Altersheim.pdf/8

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Rede
Seiner Exzellenz des Oberkonsistorial-Präsidenten
D. Dr. von Bezzel
gehalten am 5. Mai 1912 bei der Einweihung des Maria-Martha-Stifts in Lindau..


 Verehrte Anwesende!

 Es gereicht beim Blicke auf alle die bebauten und bebaubaren Gebiete des Lebens, in denen wir stehen, der Kirche zur hohen und ernsten Genugtuung, wenn sie sieht, wie das von oben her erzeugte Leben allerlei Gestalten und Formen gewinnt, welche vergangene Zeiten weder kannten noch kennen wollten. Ich muß ja hier gestehen, daß ich der anstaltlichen Entwicklung, welche die Werke der inneren Mission allenthalben annehmen, mit einer gewissen Sorge gegenüberstehe. Es liegt in allem Anstaltlichen ein ganz bestimmter Mangel, die stillschweigende Anerkennung dessen, daß die Nächstberufenen und die sie vertretenden Faktoren nicht mehr ausreichen, die hohe Aufgabe zu erfüllen, welche die Kirche je und je ihren Gliedern gestellt hat und stellen muß. Aber, verehrte Anwesende, ehe diese Aufgabe, zu deren Lösung eben die nächstgeborenen Faktoren nicht mehr hinreichen, ganz ungelöst bleibt, ist es doch fördersamer und der evangelischen Nüchternheit mehr entsprechend, wenn die Anstalten der inneren Mission, deren Anstalten dieses eben geweihte Werk ergänzt, nicht gänzlich erstarren und eintrocknen. Von diesem Gesichtspunkte aus darf ein Diener der Kirche, darf jemand, der wenigstens das eine für sich beanspruchen kann, daß ihm das Wohl seiner Kirche unablässig am Herzen liegt, das neue Werk in der Gemeinde Lindau von ganzem Herzen begrüßen.

 Gestern vor 15 Jahren ist der unvergeßliche Präsident D. von Stählin, mein günstiger Gönner, aus dieser Zeitlichkeit abgerufen worden. Ich bin nicht der Erbe seines milden und sonnigen Optimismus geworden, um den ich ihn im Geiste oft beneide, aber ein Wort aus seinem Munde hab ich doch gemerkt, habe mir’s bis auf diese Stunde durchgerettet und es soll mich durchretten in all dem Schweren, das uns befohlen ist: „Es geht vorwärts.“ Wenn der Augenblick froher Stimmung dieses Wort prägte, gilt es nicht schwer. Es ist eine liebenswürdige Selbsttäuschung über den Ernst der Dinge und über die Wirkung der Wirklichkeit. Wenn aber ein von Gott so geheiligter und in den Tiefen seines Glaubens so bewährter Mann wie der selige Stählin solch ein Wort brauchte, war es nicht das Ergebnis hoher Erregung, nicht das Geschenk einer Stunde, die man dadurch festzuhalten sucht, sondern der treue, gottgesegnete Niederschlag all der hoffenden, harrenden, glaubenden Erinnerungen, die aus der Geschichte der Vergangenheit tatkräftig in die Zukunft hineinreichen[.] Von dieser Betrachtung aus, verehrte Anwesende, begrüße ich den heutigen Tag als einen Merk- und Markstein der ewigen Gottesgnade und sage aus tiefer Befriedigung für all die unverdiente Güte unseres Herrn: Es geht vorwärts. Wahrlich nicht blind gegen allen Rückgang und gegen alle Schäden erblicke ich in dem, was ich hier sehen durfte, doch den Ernst, mit dem Prüfung über den Wert gefordert wird, und die Aufrichtigkeit, mit der gemeint wird, das zu behalten, was wir haben.