Seite:Hermann von Bezzel - Festpredigt und Rede gehalten bei der Einweihung des Maria-Martha-Stifts mit Altersheim.pdf/9

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 Wenn einmal eine Kirche in ihren Bräuchen erstarrt, geht es eben nicht vorwärts, und wenn sie an dem geschichtlich gewordenen Namen der Vorzeit sich genügen läßt, ohne ihn zu durchleben, geht es auch nicht vorwärts. Es ist eine starre, abgeschlossene Festigkeit, etwas Imposantes, aber nichts Evangelisches. Wenn also in dem großen Ringen der Geister, nicht um ein fremdes, sondern um ein ideales Kleinod, in der großen Lebensfrage der Seelen, nicht um ein Neuerworbenes, sondern um ein Altvertrautes und ein Altgeschenktes, sich das Leben zeigt, das Formen bildet und verwirklicht, so begrüßen wir es von ganzem Herzen. Als evangelische Christen, denen die Hoffnung ins Herz gegeben ist, sagen wir: es geht vorwärts. So können wir auch das Anstaltliche, wenn es auch nur mit gewissen Bedenken von uns angesehen werden kann, doch in der Freude ansehen: hier bildet die Kirche neue Gestaltung, hier sucht sie die Förderung aller vorhandenen Lebenskräfte durch innerliche Vertiefung und durch Arbeit unter Einzelstehenden auch dem anstaltlichen Leben zu dienen.

 Mein Wunsch an die evangelische Gemeinde Lindau kann nicht so unmittelbar sein, verehrte Anwesende, wie es die Wünsche meiner in Gott ruhenden Vorgänger gewesen sind. Beide waren schwäbischen Stammes und mit ihren Wünschen und allen Sorgen ihrer schwäbischen Heimat besonders verwandt. Aber dankbar im Andenken an viele Freundlichkeiten, die in früheren Zeiten ich hier erfahren habe und eingedenk der Pflicht, die mich alle mit gleicher Treue umfassen heißt, wünsche ich der evangelischen Gemeinde Lindau, daß sie am heutigen Tage, an dem sie ein neues Blatt ihrer reichen Geschichte beschreiben wird, segensvoll immer vorwärts schreiten und das Panier des guten Glaubens in allerlei Fährnissen bewahren möge[.] Wenn ich unserer evangelischen Gemeinde wünsche, es möge vorwärts gehen, so wird es nicht unbescheiden sein, sondern auf der ganzen Linie der Dinge liegen, wenn ich angesichts des verehrten Oberhauptes der hiesigen Stadt wünsche, es möge auch in dem Gemeindewesen Lindau immer vorwärts gehen. Es ist evangelische Glaubensart, in dem, was sie besitzt, etwas zu sein, nicht nur in dem, was sie wünscht und ersehnt, ein Dank auch für die große Treue, mit der die Stadt Lindau durch Jahrhunderte die evangelische Gemeinde beherbergt hat und zur herzlichen Vergeltung für all diese Herbergsgüte, mit der die Gemeinde sie erfreut hat. Ich wünsche und glaube es im Auftrage, jedenfalls aber im Sinne dieser Gemeinde, von ganzem Herzen, daß Gott der Herr die Stadtgemeinde Lindau weiterhin blühen und gedeihen und es in ihr und mit ihr vorwärts gehen lassen möchte. Wenn wir so wünschen, wünschen wir der Stadt Bestes und indem wir so hoffen, gönnen wir ihr die Sonne der Tage, die in Freundlichkeit und Güte über ihr leuchtet. Freilich, verehrte Anwesende, das sei mein letztes Wort, die Wünsche, Gebete, Gedanken haben immer etwas sehr Subjektives, der Moment diktiert sie, die Erwägung vertieft sie, die Geschichte erst muß sie erfüllen und berechtigen. So möge es mein Wunsch bleiben, daß, wenn längst unsere Tage dahin sein werden, und unsere ganze Arbeit dem unbestochenen Urteil dessen, was wir jetzt Zukunft nennen, anheimgefallen sein wird, man von diesem Teil der Geschichte unserer Landeskirche, der Gemeinde Lindau und ihrer Stadt sagen möge, es ist vorwärts gegangen. Denn die Treue hat Wurzeln geschlagen, Vertrauen hat den Stamm umhegt und umschirmt und der Segen hat es den Aufrichtigen gelingen lassen. Ja, der die Gegenwart gnadenreich gesegnet hat, läßt die Zukunft besser, reicher, reiner werden, sie bleibt dann als Kind der Gegenwart deren bester Dank und bleibender Segen.