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den ganzen Unterricht freilich eines gottbegnadeten Lehrers und Seelsorgers, auch in der Schule, genossen und dank ihrer scharfen Beobachtung und durch treues, unbeeinflußtes Gedächtnis sich eine seltene Würze und Bestimmtheit des Ausdrucks angeeignet. Löhe, der Meister des Stils, den Sprachkenner keinem geringeren als Goethe vergleichen, rühmte die Briefe und Bücher dieser einfachen Diakonisse als die besten und anschaulichsten. Sie hat vom Kriegsschauplatz 1870 bedeutsame Briefe geschrieben, ein Tagebuch geführt, das man nicht ohne Rührung lesen konnte. – Es liegt in unserem Landvolk noch eine Menge unverbrauchten und ungenutzten Salzes, eine Fülle von wirklich gesunder Lebensanschauung in treffender Realistik und unverbildeter Deutlichkeit. Menschen, die alle ihre Bildungsfermente aus der Lutherbibel, diesem Werke eines Bauernsohnes an sein Kirchenvolk, holen, sind wahrhaft gebildet, auch wenn sie weder ein Fremdwort richtig aussprechen noch die neuesten Literaturerzeugnisse, die heute blühen und morgen in den Ofen geworfen werden, gelesen haben. Die Frau auf dem Lande führt leicht ein helotenhaftes Dasein. – In die dumpfe schwere Alltäglichkeit des Lebens und seine oft krasse Deutlichkeit eingebannt, zu schwerer Arbeit verurteilt und selten auf Höhentage geführt, lernt sie mehr erleben als ihre Geschlechtsgenossin im zerstreuenden Stadtleben, über welche die Ereignisse, ohne merklichen Eindruck zu hinterlassen, hinstürmen. Aber in der großen schweigenden Einsamkeit des dörflichen Lebens bilden sich Charaktere, die im Strom der Welt leicht verschliffen werden, Menschen mit starken, festen Grundanschauungen, die von Wirklichkeiten leben, sinnige Innenleute, denen das knappe Wort, das herbe Bild, der bezeichnende Eindruck sich zu Gebot stellen. Es entstehen die Leute des treuen Gedächtnisses und des ernsten Gebetes, die, wie es im Volksmund heißt, „in der Freien“ zu Gott schreien. In sonderlichen Zeiten treten dann diese Unerkannten und Ungenannten auf mit einer Fülle von Gewordenem und Gelittenem, dem die Ursprünglichkeit das Gepräge der Wahrheit gibt.

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 Wie oft denkt man über die Grundfrage nach, wer eigentlich gebildet sei, um sich antworten zu müssen, daß der Mensch, der seine Schranken kennt und seine Gaben erweckt, die Dinge an sich herankommen läßt und sie aus seiner

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Hermann von Bezzel: Frauengestalten aus der Landeskirche. Verlag der Buchhandlung des Vereins für innere Mission, Nürnberg 1912, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Frauengestalten_aus_der_Landeskirche.pdf/10&oldid=- (Version vom 8.9.2016)