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ist? Nein, weder die, welche das Leid als notwendig verachten oder als nicht vorhanden verlachen, lösen das Rätsel des Warum? und bringen Heilung für die Not, sondern die aus ihrer Schuld und Verirrung zu den Bergen ewiger Hilfe flüchten. Passionsgedanken ranken sich zum Kreuze empor:

...Und plötzlich aus der Tiefe stieg
Ein Kreuz mit schwarzen Armen,
Und eine große Stille schwieg,
Ein schweigendes Erbarmen.
Und hoch am Kreuz, wie Tropfenfall
Aus einer Todeswunde,
Klang es erschütternd durch das All
Aus einem bleichen Munde:
Mein Gott, mein Gott, warum hast du
Mich so verlassen? – Schweigen –
Fern ging das schwere Wort zur Ruh
Wie Klang zersprungner Geigen.

Wir dürfen und müssen die Antwort auf diese Frage nach Grund und Zweck des Todesleidens eines Einsamen geben: die Schuld der Menschheit und des Einzelnen in ihr, der Welt im Menschen und der Menschenwelt, die Versäumnis der Lebensaufgabe und die Vergeudung der Lebensgabe ist von dem Menschen ohne Gleichen, der das Menschenbild in seiner Wahrheit an sich und in seiner Karrikatur in sich genommen hatte, getragen, damit die Freiheit aus der Nacht des Kerkers, in den er freiwillig gegangen war, wie die schöne Morgenröte hervorginge und in der todwunden Gerechtigkeit nicht das Unrecht, aber ihre Knechte Frieden fänden. Alle Passionsgedanken sammeln sich in dem größten, von der antiken Weltweisheit geahnten, von der alttestamentlichen Gottesweisheit geschauten Geheimnisse der leidenden Heiligkeit zusammen. Aus den Dornen, die das Menschenherz verletzen, hat er den Dornenkranz geflochten, auf die Sphinxfrage nach dem Menschheitsrätsel tut er Bescheid, der Mensch Jesus Christus, in dem unverdienterweise die Sünde sich verkörperte, damit in Sündern unverdienterweise sich die Gerechtigkeit darstellte.

 Passionssonntag – welch ein Widerspruch! So hat es Rückert gemeint:

Am Karfreitag fuhr ein Schauer
Winterschnee durchs Lenzgefild;
Billig fühlt die Schöpfung Trauer

Empfohlene Zitierweise:
Hermann von Bezzel: Passionsgedanken. Verlag der Buchhandlung des Vereins für innere Mission, Nürnberg 1916, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Passionsgedanken.pdf/9&oldid=- (Version vom 10.11.2016)