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wie ihren geistlichen Vater, den Mann, in dem nach unserer Überzeugung die apostolische Behauptung des Glaubens- und Lebensgutes am meisten sich ausgeprägt hat, „St. Pauli natürlichen Sohn“. Die Vergröberung und Verzerrung der ablehnenden Urteile über ihn, über „die bodenlose Roheit, Gemeinheit und Verkommenheit Luthers“ ist doch nur in der Tonlage anders als die maßgebliche in der Borromäusenzyklika. Und die sichtliche Bemühung etwa Grisars, Luthers Charakter zu verstehen, endet immer mit der Erklärung, in ihm ein unheimliches Problem sehen zu müssen. Dem ernsten, seines Weges gewissen Katholizismus – den sog. integralen lasse ich beiseite – muß in dem Freiprotestantismus, wie ihn die „christliche Freiheit“ Prof. Baumgartens vielleicht am klarsten vertritt, die genuine Ausgestaltung und das im Wesen des Luthertums belegene, darum mit dem Recht und der Macht innerer Konsequenz zum Durchbruch und zur Herrschaft gelangte Prinzip des Protestantismus erscheinen. Hinopferung jeder außerhalb des eignen Gewissens gelegenen Autorität, Preisgabe des normativen Schriftprinzipes, schließlich Indifferenzierung des grundleglich Neuen im Christentum sind, so glaubt der ernste Katholik, die Früchte des Giftbaums, den der unselige Apostat von Wittenberg in deutsche Erde gepflanzt hat. – Wo aber im Luthertum der Glaube der Väter, die Gemeinschaft mit der bekennenden Kirche aller Zeiten, die Anbetung des um der Menschheitssünde willen in den Tod gegangenen und zur wahren Gerechtigkeit der Menschheit auferstandenen Heilsmittlers sich zeigen, da erblickt katholische Anschauung der Dinge verkürzte Verbindungen mit der verlassenen Kirche, kümmerliche Residuen des alten Glaubens, den man bekämpft, um ihn zu vergessen, und dessen man bedarf, um ein Leben zu fristen.

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 Es soll jetzt nicht untersucht werden, welche innere Beziehungen bei scheinbar ausschließender Gegensätzlichkeit zwischen Freiprotestantismus und Katholizismus bestehen, etwa in der Hochhaltung des Verdienstlichkeitscharakters, in dem Kultus des Heroismus, in der einseitigen Bewertung der vita contemp1ativa. Die Paulus verwerfen, geraten über Franziskus in Verzückung, und die gegen die Jesuitengefahr unablässig streiten, versenken sich andächtig in das Bild des Ignatius. – Aber das muß gesagt werden. Wenn der Katholizismus dem Luthertum wirklichen Abbruch tun will, wird er es nicht direkt

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Hermann von Bezzel: Zeitbetrachtung. A. Deichert’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1914, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Zeitbetrachtung.pdf/12&oldid=- (Version vom 10.9.2016)