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erfordert, soll anregend und doch lehrhaft, fesselnd und doch klar bestimmt sein, nicht auf Entdeckungen ausgehen, sondern das εὕρημα αἰώνιον Hebr. 9, 12 nahebringen. Wird es noch gelingen, unsere Gebildeten – wer dieses Wort recht deuten, seine Grenzen und sein Recht gut würdigen könnte! – nicht durch Versöhnung von Christentum und Gegenwart, wobei jenes an diese zahlen mußte, sondern durch Erklärung des Christentums aus der Gegenwart und dieser aus ihm, für die armselige Torheit des Kreuzes, die doch höchste Weisheit ist, zu gewinnen und sub specie mortis et aeterniatis den darzustellen, der dem Tode die Macht genommen und die Ewigkeit aus einem lichtleeren Raume zu der Vaterheimat gestaltet hat? Wird man den Mut noch aufrufen können, dem die causa victa gefällt, weil die causa victrix auf der Heerstraße gepriesen wird? Wer reicht die Waffen gegen den Monismus dar, der bald im Gewande des verzückten Mystikers bald mit dem Seziermesser des kalten, nüchternen Kritikers die Existenz des persönlichen Gottes, die Verantwortlichkeit des Innenlebens ihm gegenüber bestreitet? In die trüben, ungründigen Wellen eines in Buddhismus und Enthusiasmus, in Welttrunkenheit und künstlicher Hypnotisierung daherflutenden Meeres starren Tausende als in eine neue, das Christentum erst recht zum Verständnis bringende Offenbarung. Wer bannt diesen unheimlichen Zauber, dessen Wirkung weit größer, jedenfalls weit gefährlicher ist als der Ostwalds und Horneffers? Wie bringen wir die einzige Frage um das Heil der Seele, um deren Verantwortlichkeit für sich und die des Nächsten an unser in dem Diesseitsdienste langsam erstickendes Volk, dem der Grund unter den Füßen weicht, weil die Sünde kaum mehr genannt, geschweige geahndet wird? Zehntausend Ehescheidungen hat ein Jahr der Reichshauptstadt gebracht, die furchtbaren Prozesse, in denen die Sünde gegen das fünfte und sechste Gebot nur mit der gegen das siebente abwechselt, werden breit und behaglich geschildert, und der Verteidiger scheut sich nicht, Dirnen mit Ehrennamen vor Gericht zu nennen. So wälzt sich wie ein breiter dunkler Strom Gottesferne, Menschenverachtung, Lebensbejahung in Lust und Lüsternheit, Lebensverneinung, wenn der Taumel vorüber ist, durch unser Volksleben dahin, und vergebens steht der Herr unseres Volkes, dessen Geschichte er mit sonderlichen Erweisen seiner Macht und Gnade

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Hermann von Bezzel: Zeitbetrachtung. A. Deichert’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1914, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Zeitbetrachtung.pdf/24&oldid=- (Version vom 10.9.2016)