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erfassen, ehe das Urteil gefällt wird, und erst aus der an einer Reihe von Erfahrungen erwachsenen Anschauung heraus scheiden und entscheiden. Wenn aber die Kennzeichen klar vorhanden sind, so kann und soll man urteilen. Würde, um dafür ein Beispiel zu nennen, vor 15 Jahren gegen gewisse Abbiegungen in der deutschen Gemeinschaftsbewegung, die deutlich und kennbar genug zutage traten, gegen die unevangelische Auffassung von Kirche und Heiligung mit ernster Absage aufgetreten worden sein, so wäre die Pfingstbewegung mit ihren oft schauerlichen Verirrungen nicht gekommen.

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 So sei es versucht, die, je öfter sie erfüllt werden soll, desto schwerer erscheinende und werdende Arbeit zu unternehmen und eine kirchliche Übersicht über das zu Ende gehende Jahr zu schreiben, aus der etliche Gedanken über die Gestaltung der Zukunft von selbst sich ergeben. Das Jahr 1913 war ein Jubiläumsjahr, und das sollte ihm eine gute Vorbedeutung sein. Denn ein geschichtsloses Volk wird die Beute des zwingenden Augenblicks: es hat nichts gelernt, alles vergessen. So trägt die Stunde wie einen Raub fort, was die Jahrhunderte als Besitz erworben und gelassen haben. Israels Weltstellung bleibt durch sein Gedächtnis und dessen treue Pflege gesichert; weil es in der Geschichte lebt, hat es Geschichte. Als die antiken Völker über geschichtliche Begeisterung als über eine jugendliche Naivität lächelten, da verloren sie ihr Anrecht an die Geschichte. Wer nicht feiern will, kann nicht arbeiten und wer nicht denkt, dankt nicht. Bei Gedankenlosen aber findet man weder Herz noch Mut. Man braucht nicht in Byzantinismus versunken zu sein – ruere vile in servitium schreibt Tacitus von den Zeiten des Tiberius – um mit Dank an die Kaisertage im Juni sich zu erinnern, da dem Kaiser gehuldigt ward, daß er als ein Hort des Friedens und ein Schutzherr der Friedenswerke dem deutschen Volke sich erzeigte, die christliche Weltanschauung in ihren Grundzügen fest bekannt und ins häusliche und berufliche Leben hereingenommen hat. Es war nicht eigentlich höfisches Gepränge, sondern die Feier trug familienhafte Züge. Dem monarchischen Prinzipe huldigte ein Volk, das trotz vieler Gegensätze und Gegenströmungen unter ihm am besten sich geborgen weiß. Mächtiger, gewaltiger redeten die Feiern von Kelheim und Leipzig. Die deutschen Fürsten, um den Kaiser versammelt, dankten mit ihrem

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Hermann von Bezzel: Zeitbetrachtung. A. Deichert’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1914, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Zeitbetrachtung.pdf/5&oldid=- (Version vom 10.9.2016)