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Volke für die großen Taten von 1813 dem Gott, der groß und wunderbar unzerbrechlich scheinende Ketten zerrissen und ein auf Jahrhunderte angelegtes Joch zertrümmert hatte. Es war echte, aus den Tiefen hervorbrechende Begeisterung. Als die Fürsten die Befreiungshalle verließen, und der goldene Sonnenschein über Berg und Tal erglänzte, da schien es wie eine freundliche Prophezeihung, daß der Gott unserer Väter aus dem düstern Gewölk von Streit und Bitterkeit, aus den Nebeln der Irrung und des Wahnes seine Gnadensonne unserem Volke noch einmal leuchten lassen wolle. Und die alten Lieder des Dankes und des Gelöbnisses erschallten weit ins Land hinaus. Es hat doch manch einer auf die geheimen Kräfte des Sieges und Segens sich besonnen, die vor hundert Jahren unser Volk über sich und seine Dürftigkeit und Kleinlichkeit gehoben hatten und der ewigen Gottesmacht gedacht, die oft lange schweigt, als hätte sie unser vergessen, und säumt in die Geschichte einzugreifen, so daß sie wie ein öder Mechanismus sich abzuwickeln scheint, bis sie eingreift und ihn als den Lebendigen erweist, der Völker gehen und kommen läßt und in seine ewige Pläne Menschenwerk und -wesen so weit einordnet, als es ihm gefällt. Die sittlich-ernsten, in Not gestählten Charaktere, denen das Gebet die einzig mögliche Sprache eines gepreßten Herzens und die schlichte Arbeit der Segen des Gebetes wurde, traten doch wieder vor die Augen des Volkes. Und das Volk hat die Gotteshäuser an den Gedächtnistagen wieder aufgesucht, die stille Sehnsucht nach Persönlichkeiten, nach gewissen Kräften und verlässigen Heilmitteln fand da und dort Worte, schüchterne vielleicht, unklare, unbestimmte. Aber die eine Erkenntnis blieb gewiß, daß nur Ewigkeitsernst der Zeit und ihren Täuschungen es abgewinnen und nur Ewigkeitssinn wirklich Beständiges erarbeiten kann. Ein nüchterner Beurteiler der Volkesseele hat es ausgesprochen, daß die Lauheit in den Scharen der fortwährenden Verneinung und unfruchtbaren Opposition von der Begeisterung der Feste herrühre. Daß Theorien nicht befreien und Diesseitigkeitssinn die irdischen Aufgaben kaum einschätzen, geschweige denn lösen kann, hat doch mancher gesehen.

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 Abseits von der großen Heerstraße hat in den letzten Tagen des Oktobers eine wenig gekannte Gemeinde ihr dreihundertfünfzigjähriges Jubiläum gefeiert, die einzige evangelische Landgemeinde in

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Hermann von Bezzel: Zeitbetrachtung. A. Deichert’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1914, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Zeitbetrachtung.pdf/6&oldid=- (Version vom 10.9.2016)