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Asianismus und Atticismus.

Asianismus ist heut zu Tage ein vielgebrauchter Name[1]; manche identificiren den Begriff mit dem vagen der corrupta eloquentia aller Zeiten; manche verstehen darunter die gesammte kunstmässige Prosa der hellenistischen Zeit; andere halten sich mehr an den geographischen Sinn, lassen aber dafür den Asianismus der hellenistischen Zeit in der zweiten Sophistik, deren Centrum Asien ist, wiederaufleben; darin aber sind alle einig, dass Asianismus etwas sehr verwerfliches ist. In scharfem Gegensatze hierzu steht die geringe Zahl der antiken Zeugnisse, auf Grund deren der moderne Begriff sich gebildet hat; so bekannt sie sind, müssen sie doch von Neuem vorgeführt werden. Cicero kennt in den Büchern vom Redner den stilistischen Terminus noch nicht; er bemerkt nur, dass der gebildete Asiate die Feinheit der Aussprache, wie sie auch der ungebildete Athener von selbst besitze, niemals erreichen könne.[2] Im Brutus (325) dagegen charakterisirt er gar


  1. Es wird jeder jetzt zunächst nach Nordens schönem Buche greifen, wo die hellenistische Zeit kurzweg I 126 ff. als ‚Entartung der griechischen Prosa, Demetrios und die asianische Beredtsamkeit‘ behandelt ist. Die zweite Sophistik wird dann I 353 ff. behandelt. Nordens Versuch, einen Widerspruch zwischen Rohdes und Kaibels Aufsätzen (Rhein. Mus. 41 gegen Herm. 20) zu leugnen, läuft Rohdes Intention zuwider und kann nur so weit gebilligt werden, als zwei so kenntniss- und urtheilsvolle Beurtheiler sachlich sich sehr viel näher stehen, als es ihnen selber scheint. Dass ich gegen Norden vielfach ex- und implicite polemisire, geschieht natürlich nur, weil sein Buch so schön ist.
  2. De orat. 3, 43 Athenis iam diu doctrina ipsorum Atheniensium interiit, domicilium tantum in illa urbe remanet studiorum, quibus vacant cives, peregrini fruuntur, capti quodam modo nomine urbis et auctoritate. tamen eruditissimos homines Asiaticos quivis Atheniensis indoctus non verbis sed sono vocis nec tam bene quam suaviter loquendo facile superabit. Das ist der Zustand Athens, den Cicero kannte, nach der sullanischen Katastrophe; Crassus hatte es noch anders gesehen, und das Volk war erst durch die Verarmung der Bildung entfremdet, vgl. Philodem rhet. II 217 Sudh. (aus [2] Diogenes von Babylon). Wir dürfen also dieses ganze Urtheil nicht von Cicero auf seine griechische Vorlage übertragen. Um so bemerkenswerther ist, dass er an den Asiaten keine unattischen Wörter zu tadeln weiss.
Empfohlene Zitierweise:
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Asianismus und Atticismus. In: Hermes. Zeitschrift für classische Philologie Bd. 35. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 1900, Seite 1. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermes_35_001.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)