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derjenige Stil, den Seneca am vollendetsten repräsentirt, den Quintilian die corrupta eloquentia nennt, die Fortsetzung des Asianismus ist, und dass weiterhin‚ sich zwei Richtungen gegenüber stehen, die Archaisten und die Neoteriker des Stiles, jene anknüpfend an die attischen Classiker, diese an die Sophisten der platonischen Zeit und die mit diesen ihrerseits verwandte asianische Rhetorik‘. Bei den Archaisten findet er Erstarrung, bei den Neoterikern Fortbildung.

Hier kann ich nicht mehr mit. Zum ersten: was ist denn bei der Fortbildung herausgekommen? Diese ganze sogenannte neoterische Richtung hat ja so wenig erreicht, dass die griechische Sprache immer wieder auf den Classicismus zurückgegriffen hat, den die Lehrbücher predigen und dessen vollkommenste Vertreter, Aristides, Lukian und Libanius sich erhalten haben, während kein einziger Neoteriker zu irgend einer Zeit classisch geworden ist, die meisten spurlos verschwunden sind.[1] Und ist etwa zwischen ihnen, sagen wir zwischen Favorin und Himerius, ein Zusammenhang? Die sich lebendig fortentwickelnde Sprache kennen wir Dank den Schriften des Urchristenthums und den Papyri: gravitirt sie nach der angeblich entwicklungsfähigen, angeblich neoterischen Richtung? Kein Gedanke. Sobald das Christenthum sich der Bildung erschliesst, regirt auch in ihm der Classicismus. Das Volkstümliche bleibt kaum als Unterströmung; so erfolgt denn statt einer lebensvollen Ausgestaltung der wirklichen Sprache die völlige Mumificirung des litterarischen Attisch. Ferner hat sich bereite gezeigt, dass ein directes Anknüpfen an die Sophistik des 4. Jahrhunderts oder an die hellenistische Kunstprosa nicht vorhanden gewesen ist, sondern die Continuität eben in dem beständigen Abstossen der älteren nachclassischen Litteratur besieht, während die classische dauernd das Fundament bleibt. Endlich hat sich ergeben, dass sich die Bezeichnung der gesammten neoterischen Rhetorik als asianisch aus dem antiken Gebrauche des Terminus nicht rechtfertigen lässt; geographisch genommen ist sie so wie so ein Unding. Nun könnte es ja unschädlich scheinen, einen bequemen kurzen Terminus einzuführen, auch wenn er ganz oder in seiner


  1. Man bedenke dagegen, dass die Poesie des 3. Jahrhunderts in derselben Zeit, wo der Atticismus eich erhebt, ciassisch wird, und dass ein Nachahmer dieser Poesie aus augusteischer Zeit, Parthenios, in die Reihe der πραττόμενοι hat eintreten können.
Empfohlene Zitierweise:
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Asianismus und Atticismus. In: Hermes. Zeitschrift für classische Philologie Bd. 35. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 1900, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermes_35_022.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)