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stark eingewirkt hat, weil neben dem wohlmeinenden aber flachen Rhetor der grosse Historiker steht,[1] der die Abstractionen zu beleben weiss und einen Vertreter des Neuen einführt, der denn auch weit entfernt ist, seinen Stil für corrupt zu halten. Und noch viel mehr trägt aus, dass wir lateinische Schriftsteller besitzen, die den Stil in voller Meisterschaft und mit voller Ueberzeugung vertreten, der dem Quintilian corrupt ist, Seneca und im Grunde auch trotz dem Dialoge Tacitus. Aber wenn das Lateinische, nachdem es die classische Höhe in Cicero erreicht hat, nun eine Periode des Barockstils durchmacht, die in so hervorragenden Schriftstellern gipfelt, und wenn es dann mit dem durch Quintilian inaugurirten Classicismus, der bald in Archaismus ausartet, in entsetzliche Oede versinkt, aus der es erst durch das Christenthum erlöst wird, so trifft es schon durchaus zu, dass die ehedem sogenannte Silberne Latinität dem Griechischen der hellenistischen Periode entspricht, eben auch einer Barockperiode, aber auf das gleichzeitige Griechisch darf man es nicht übertragen und noch viel weniger die unendlich grössere Mannigfaltigkeit aus der geradlinigen römischen Entwicklung erklären.[2]

Was hat es für Zeit und Mühe gekostet, dass begriffen wurde, wie Tacitus gleichzeitig den Dialog im Stil des ciceronischen Dialoges, den Agricola in dem des Enkomions, (Prototyp Xenophons Agesilaos, Polybios’ Philopoimen), die Germania in dem der ethnographischen. Ekphrasis (Ahnenreihe: Herodot, Theopomp, Timaios, Poseidonios, Sallust) verfassen konnte. Uns Modernen wird es eben schwer, die Einheit des persönlichen Stiles daran zu geben und die Forderungen


  1. Es sollte einleuchten, dass Tacitus den Dialog geschrieben hat, als er das Bild, das ihm Quintilian in seiner Streitschrift vorführte, mit den Augen des Historikers überschaute, unmittelbar dadurch angeregt, natürlich aber, wie ein antiker Historiker pflegt, den Stoff und die Gedanken des Gelehrten übernehmend; wir finden sie zum Theil in π. ὕψους, und natürlich hatten sie Philosophen gedacht, denen die Rhetoren sie alle entnahmen. Ausserdem hat dem Tacitus die Einleitung des ciceronischen Hortensius viel geliefert, wie sie Usener reconstruirt hat.
  2. Nordens Fehlgriff zeigt sich greifbar in seiner Disposition. Er hat I 149 nur ein paar Worte über den Atticismus, den er durch ein mir unbegreifliches Versehen um 200 v. Chr. ansetzt. Dann geht er auf Rom über, verfolgt das Latein bis Tacitus, und nun kommt die zweite Sophistik. Da kommt es freilich nicht heraus, dass unter Augustus die Entscheidungsstunde für die griechische Litteratur geschlagen hat. Ueber die Unfruchtbarkeit des Stilprincipes der μίμησις hat dagegen Norden öfter zutreffend geurtheilt.
Empfohlene Zitierweise:
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Asianismus und Atticismus. In: Hermes. Zeitschrift für classische Philologie Bd. 35. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 1900, Seite 25. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermes_35_025.jpg&oldid=- (Version vom 1.4.2021)