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sie nicht gleich gemacht. Die Anerkennung, von festen Gattungen und Stilen schliesst strenggenommen jeden Fortschritt aus, es kann und darf ja nichts Neues mehr geben: wir sehen ja bei den Romanen im Laufe der Zeiten öfter, bei uns in gewissen Kreisen noch jetzt diese Starrheit der classicistischen Doctrin. So ist es in der griechischen Poesie schon früh, so ist es seit dem Siege des Classicismus unter Augustus auch in der griechischen Prosa gewesen. In der Poesie nach Menander, in der Prosa nach Poseidonios ist alles gemacht, wenn auch vieles vortrefflich gemacht, oder es ist doch künstlich gezogen; lebendiges Wachsthum beginnt erst wieder mit dem Christenthume – auch nur auf kurze Zeit.

Die Unterscheidung der Stilarten war in Ausführung aristotelischer Gedanken von Theophrastos mit vollkommenstem Erfolge durchgeführt und den richtigen Gattungen waren ihre παρεκβάσεις zur Seite gestellt worden.[1] Es genügt an die Fortwirkung dieser bedeutenden Gedanken gerade in dem feinsten, was Cicero, Dionysios und Demetrios lehren, zu erinnern. Aber wenn man meinen möchte, die Asianer würden sich dagegen gewendet haben, so wäre man in schwerem Irrthum. Der Rhetor ad Herennium giebt im vierten Buch 11–16 die drei Gattungen an, die er σχήματα nennt,[2] σεμνόν μέσον ἰσχνόν und ihre ἀντικείμενα ἁμαρτήματα, φυσῶδες διαλελυμένον εὐτελές,[3] und hat für alle gute Proben verfertigt. Ohne Frage könnte man nach diesen Regeln die Fehler brandmarken, die Cicero an den Asianern tadelt, und an denen dieser Rhetor selbst wie wenige krankt.[4] Er ist sich also eines Gegensatzes zu der theophrastischen Doctrin gar nicht bewusst gewesen. Man hatte nur die einzelnen Gattungen viel charakteristischer und voller herausgearbeitet als die Classiker, die man verehrte, aber überwunden hatte. So etwa mag der Rhetor gedacht haben.



  1. Rabe, Theophrastos π. λέξεως, führt das trotz einiger Uebertreibungen zutreffend aus.
  2. Ein dringendes Bedürfniss ist die Verfolgung der Lehre von diesen σχήματα zu den späteren σχ. διανοίας καὶ λέξεως, andererseits, die Abgrenzung dieser Doctrin von der der τρόποι, die wohl grammatischen Ursprunges sind.
  3. Ich setze, was für diese Schrift besonders nöthig ist, gleich die griechischen Termini.
  4. So sieht Seneca den Splitter im Auge des Maecenas, ohne den Balken in seinem Eigenen zu bemerken. Allerdings war er nicht geschmacklos wie der Etrusker.
Empfohlene Zitierweise:
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Asianismus und Atticismus. In: Hermes. Zeitschrift für classische Philologie Bd. 35. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 1900, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermes_35_027.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)