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David Hilbert: Mathematische Probleme. In: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Mathematisch-Physikalische Klasse

Auch für unendliche Gruppen ist, wie ich glaube, die Untersuchung der entsprechenden Frage von Interesse. Ueberhaupt werden wir auf das weite und nicht uninteressante Feld der Functionalgleichungen geführt, die bisher meist nur unter der Voraussetzung der Differenzirbarkeit der auftretenden Functionen untersucht worden sind. Insbesondere die von Abel[1] mit so vielem Scharfsinn behandelten Functionalgleichungen, die Differenzengleichungen und andere in der Litteratur vorkommende Gleichungen weisen an sich nichts auf, was zur Forderung der Differenzirbarkeit der auftretenden Functionen zwingt, und bei gewissen Existenzbeweisen in der Variationsrechnung fiel mir direkt die Aufgabe zu, aus dem Bestehen einer Differenzengleichung die Differenzirbarkeit der betrachteten Function beweisen zu müssen. In allen diesen Fällen erhebt sich daher die Frage, inwieweit etwa die Aussagen, die wir im Falle der Annahme differenzirbarer Functionen machen können, unter geeigneten Modifikationen ohne diese Voraussetzung gültig sind.

Bemerkt sei noch, daß H. Minkowski in seiner vorhin genannten „Geometrie der Zahlen“ von der Functionalungleichung

ausgeht und aus dieser in der That die Existenz gewisser Differentialquotienten für die in Betracht kommenden Functionen zu beweisen vermag.

Andererseits hebe ich hervor, daß es sehr wohl analytische Functionalgleichungen giebt, deren einzige Lösungen nichtdifferenzirbare Functionen sind. Beispielsweise kann man eine eindeutige stetige nichtdifferenzirbare Function construiren, die die einzige Lösung zweier Functionalgleichungen

darstellt, wo , zwei reelle Zahlen und eine für alle reellen Werte von reguläre analytische eindeutige Function bedeutet. Man gelangt am einfachsten zu solchen Functionen mit Hülfe trigonometrischer Reihen durch einen ähnlichen Gedanken, wie ihn Borel nach einer jüngsten Mitteilung von Picard[2] zur Construction einer doppelperiodischen nichtanalytischen Lösung einer gewissen analytischen partiellen Differentialgleichung benutzt hat.


  1. Werke, Bd. 1 S. 1, 61, 389.
  2. Quelques théories fondamentales dans l’analyse mathématique. Conférences faites à Clark-University. Revue générale des Sciences 1900. S. 22.
Empfohlene Zitierweise:
David Hilbert: Mathematische Probleme. In: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Mathematisch-Physikalische Klasse. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1900, Seite 271. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hilbert_-_Mathematische_Probleme.pdf/20&oldid=- (Version vom 1.8.2018)