David Hilbert: Mathematische Probleme. In: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Mathematisch-Physikalische Klasse | |
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Ich bemerke noch, daß es beispielsweise Flächen von negativer constanter Gaussscher Krümmung giebt, die durch stetige und fortgesetzt differenzirbare, aber nicht analytische Functionen dargestellt werden, während wahrscheinlich jede Fläche von positiver constanter Gaussscher Krümmung stets notwendig eine analytische Fläche sein muß. Bekanntlich stehen ja auch die Flächen positiver constanter Krümmung in engster Verbindung mit dem regulären Variationsproblem, durch eine geschlossene Raumcurve eine Fläche kleinsten Flächeninhaltes zu legen, die mit einer festen Fläche durch die nämliche Raumcurve ein gegebenes Volumen abschließt.
Ein wichtiges Problem, welches mit dem eben genannten in engem Zusammenhange steht, ist die Frage nach der Existenz von Lösungen von partiellen Differentialgleichungen mit vorgeschriebenen Randwerten. Die scharfsinnigen Methoden von H. A. Schwarz, C. Neumann und Poincaré haben dieses Problem für die Differentialgleichung des Potentials im Wesentlichen gelöst, doch erscheinen diese Methoden im Allgemeinen nicht unmittelbar der Ausdehnung fähig auf den Fall, indem am Rande die Differentialquotienten oder Beziehungen zwischen diesen und den Werten der Function vorgeschrieben sind, oder wenn es sich nicht um Potentialflächen handelt, sondern etwa nach Flächen kleinsten Flächeninhalts oder nach Flächen mit constanter positiver Gaussscher Krümmung gefragt wird, die durch eine vorgelegte Raumcurve hindurch laufen oder über eine gegebene Ringfläche zu spannen sind. Ich bin überzeugt, daß es möglich sein wird, diese Existenzbeweise durch einen allgemeinen Grundgedanken zu führen, auf den das Dirichletsche Princip hinweist und der uns dann vielleicht in den Stand setzen wird, der Frage näher zu treten, ob nicht jedes reguläre Variationsproblem eine Lösung besitzt, sobald hinsichtlich der gegebenen Grenzbedingungen gewisse Annahmen – etwa die Stetigkeit und stückweise öftere Differenziirbarkeit, der für die Randbedingungen maßgebenden Functionen – erfüllt sind und nötigenfalls der Begriff der Lösung eine sinngemäße Erweiterung erfährt[1].
Aus der Theorie der linearen Differentialgleichungen mit einer unabhängigen Veränderlichen möchte ich auf ein wichtiges
- ↑ Vgl. meinen Vortrag uber das Dirichletsche Princip. Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung VIII 1900, S. 184.
David Hilbert: Mathematische Probleme. In: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Mathematisch-Physikalische Klasse. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1900, Seite 289. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hilbert_-_Mathematische_Probleme.pdf/38&oldid=- (Version vom 1.8.2018)