Seite:Hilbert - Mathematische Probleme.pdf/40

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
David Hilbert: Mathematische Probleme. In: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Mathematisch-Physikalische Klasse

Gebiet jener Functionen durchläuft, auch wirklich die Gesamtheit aller regulären Stellen des vorgelegten analytischen Gebildes zur Darstellung gelangt. Vielmehr scheinen in Poincarés Untersuchungen, abgesehen von den Verzweigungspunkten, noch gewisse andere im Allgemeinen unendlichviele diskrete Stellen vorgelegten analytischen Gebildes ausgenommen zu sein, zu denen man nur gelangt, indem man die neue Variable gewissen Grenzstellen der Functionen nähert. Eine Klärung und Lösung dieser Schwierigkeit scheint mir in Anbetracht der fundamentalen Bedeutung der Poincaréschen Fragestellung äußerst wünschenswert.

Im Anschluß an dieses Problem bietet sich das Problem der Uniformisirung einer algebraischen oder beliebigen analytischen Beziehung zwischen drei oder mehr complexen Veränderlichen – ein Problem, das bekanntlich in zahlreichen besonderen Fällen lösbar ist, und für welches die neueren Untersuchungen von Picard über algebraische Functionen von zwei Variabeln als willkommene und bedeutsame Vorarbeiten in Anspruch zu nehmen sind.


23. Weiterführung der Methoden der Variationsrechnung.


Bisher habe ich im Allgemeinen möglichst bestimmte und specielle Probleme genannt, in der Erwägung, daß es gerade die bestimmten und speciellen Probleme sind, die uns am meisten anziehen und von denen oft der nachhaltigste Einfluß auf die Gesamtwissenschaft ausgeht. Dennoch möchte ich mit einem allgemeinen Probleme schließen, nämlich mit dem Hinweise auf eine Disciplin, die bereits mehrmals in meinem Vortrage Erwähnung fand – eine Disciplin, die trotz der erheblichen Förderung, die sie in neuerer Zeit durch Weierstrass erfahren hat, dennoch nicht die allgemeine Schätzung genießt, die ihr meiner Ansicht nach zukommt – ich meine die Variationsrechnung[1].

Die Variationsrechnung im weitesten Sinne ist die Lehre vom Variiren der Functionen und erscheint uns als solche wie eine denknotwendige Fortsetzung der Differential- und Integralrechnung. So aufgefaßt, bilden beispielsweise die Poincaréschen Untersuchungen über das Dreikörperproblem ein Kapitel der Variationsrechnung, insofern darin Poincaré aus bekannten Bahncurven von gewisser Beschaffenheit durch das Princip des Variirens neue Bahncurven von ähnlicher Beschaffenheit ableitet.


  1. Lehrbücher sind: Moigno-Lindelöf „Leçons du calcul des variations“, Paris 1861 und A. Kneser, „Lehrbuch der Variationsrechnung“, Braunschweig 1900.
Empfohlene Zitierweise:
David Hilbert: Mathematische Probleme. In: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Mathematisch-Physikalische Klasse. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1900, Seite 291. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hilbert_-_Mathematische_Probleme.pdf/40&oldid=- (Version vom 1.8.2018)