David Hilbert: Mathematische Probleme. In: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Mathematisch-Physikalische Klasse | |
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Vereinfachung und größere Einheitlichkeit. Der Nachweis ferner, daß die Potenzreihe die Anwendung der vier elementaren Rechnungsarten, sowie das gliedweise Differentiiren und Integriren gestattet und die darauf beruhende Erkenntnis der Bedeutung der Potenzreihe, trug erheblich zur Vereinfachung der gesamten Analysis, insbesondere der Theorie der Elimination und der Theorie der Differentialgleichungen sowie der in derselben zu führenden Existenzbeweise bei. Das schlagendste Beispiel aber für meine Behauptung ist die Variationsrechnung. Die Behandlung der ersten und zweiten Variation bestimmter Integrale brachte zum Teil äußerst complicirte Rechnungen mit sich und die betreffenden Entwickelungen der alten Mathematiker entbehrten der erforderlichen Strenge. Weierstrass zeigte uns den Weg zu einer neuen und sicheren Begründung der Variationsrechnung. An dem Beispiel des einfachen Integrals und des Doppelintegrals werde ich zum Schluß meines Vortrages kurz andeuten, wie die Verfolgung dieses Weges zugleich eine überraschende Vereinfachung der Variationsrechnung mit sich bringt, indem zum Nachweis der notwendigen und hinreichenden Criterien für das Eintreten eines Maximums und Minimums die Berechnung der zweiten Variation und zum Teil sogar die mühsamen an die erste Variation anknüpfenden Schlüsse völlig entbehrlich werden – gar nicht zu reden von dem Fortschritte, der in der Aufhebung der Beschränkung auf solche Variationen liegt, für die die Differentialquotienten der Funktionen nur wenig variiren.
Wenn ich die Strenge in den Beweisen als Erforderniß für eine vollkommene Lösung eines Problems hinstelle, so möchte ich andererseits zugleich die Meinung widerlegen, als seien etwa nur die Begriffe der Analysis oder gar nur diejenigen der Arithmetik der völlig strengen Behandlung fähig. Eine solche bisweilen von hervorragenden Seiten vertretene Meinung halte ich für durchaus irrig; eine so einseitige Auslegung der Forderung der Strenge führt bald zu einer Ignorirung aller aus der Geometrie, Mechanik und Physik stammenden Begriffe, zu einer Unterbindung des Zuflusses von neuem Material aus der Außenwelt und schließlich sogar in letzter Consequenz zu einer Verwerfung der Begriffe des Continuums und der Irrationalzahl. Welch wichtiger Lebensnerv aber würde der Mathematik abgeschnitten durch eine Exstirpation der Geometrie und der mathematischen Physik? Ich meine im Gegenteil, wo immer von erkenntnistheoretischer Seite oder in der Geometrie oder aus den
David Hilbert: Mathematische Probleme. In: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Mathematisch-Physikalische Klasse. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1900, Seite 258. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hilbert_-_Mathematische_Probleme.pdf/7&oldid=- (Version vom 1.8.2018)