Seite:Historische Zeitschrift Bd. 001 (1859) 118.jpg

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erkämpft hat, der Apostel Paulus, war ohne Zweifel schon vor seiner eigenen Uebersiedlung in die hellenische Welt von dem Einfluß griechischer Bildung wenigstens mittelbar berührt worden; denn es läßt sich kaum denken, daß er sich diesem in seiner Vaterstadt Tarsus ganz entziehen konnte, und einem schärferen Auge werden sich seine Spuren auch in den Briefen des Apostels nicht verbergen. Als aber, großentheils durch ihn, die Christengemeinde den Heiden, und zunächst den Hellenen, geöffnet war, als diese sich massenweise zu ihr herbeidrängten und die Zahl der Nationaljuden innerhalb derselben bald um das Vielfache überwogen, da war es ganz unvermeidlich, daß auch griechische Anschauungen hier mehr und mehr Eingang fanden. Die Neueintretenden, nicht als Kinder im Christenthum unterrichtet, sondern in reiferen Jahren für dasselbe gewonnen, konnten es natürlich nur von ihrem Standpunkt aus auffassen, nur an die Vorstellungen, welche ihnen von früher her feststanden, anknüpfen; und mögen auch viele von ihnen immerhin vorher die Schule des jüdischen Proselytenthums durchgemacht haben, mochten sich auch längere Zeit nur wenige höher Gebildete darunter befinden: die Einwirkung der griechischen Wissenschaft konnte dadurch zwar abgeschwächt, aber doch lange nicht beseitigt werden, und je mehr nachgehends auch Leute von wissenschaftlicher Bildung dem neuen Glauben sich anschloßen, um so nachhaltiger und umfassender mußte sie ausfallen. So finden wir denn wirklich schon unter den ältesten christlichen Schriftwerken, schon unter den Wortführern der Kirche im zweiten Jahrhundert, nicht wenige, welche mit der halbgriechischen alexandrinischen Schule nahe verwandt sind; und selbst unter unsern neutestamentlichen Schriften können mehrere, wie der Ebräerbrief und das vierte Evangelium, ihren Einfluß nicht verläugnen, mittelbar also auch die der griechischen Philosophie nicht. Wie bedeutend diese aber in der Folge auf die Gestaltung der christlichen Glaubens- und Sittenlehre eingewirkt hat, ist bekannt. Die ganze Philosophie der Kirchenväter und ein großer Theil ihrer Theologie, die ganze Scholastik ist nichts anderes, als ein großartiger, Jahrhunderte lang fortgesetzter Versuch, die griechische Philosophie für die Fortwirkung und das Verständniß der christlichen Lehre zu verwenden.

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Zeller: Der platonische Staat in seiner Bedeutung für die Folgezeit. In: Historische Zeitschrift Bd. 1. Literarisch-artistische Anstalt der J. G. Cotta’schen Buchhandlung, München 1859, Seite 118. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Historische_Zeitschrift_Bd._001_(1859)_118.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)