Seite:Historische Zeitschrift Bd. 001 (1859) 119.jpg

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Diese Verhältnisse muß man sich vergegenwärtigen, wenn man sich die Bedeutung des Platonismus für das Christenthum, und so auch den Zusammenhang der platonischen Politik mit dem, was ihr auf christlichem Boden analog ist, klar machen will. War es doch gerade der Platonismus, welchem theils als solchem, theils in seiner Verbindung mit der stoischen und der neupythagoräischen Philosophie in jenem großen Bildungsproceß, aus dem auch die christliche Kirche und ihre Dogmatik hervorgieng, eine hervorragende Rolle zufiel, welchem Jahrhunderte lang die bedeutendsten unter den christlichen Kirchenlehrern huldigten, welcher durch seine Wahlverwandtschaft mit dem Christenthum sich vorzugsweise eignete, zwischen ihm und dem Hellenismus zu vermitteln. Plato ist der erste Urheber, oder wenigstens der bedeutendste Vertreter jenes Spiritualismus, welcher nicht blos den Griechen, sondern auch den Juden ursprünglich fremd, in den letzten Jahrhunderten vor Christus sich allmälig der Gemüther bemächtigt, und durch das Christenthum in weiten Kreisen die Herrschaft erlangt hat. Er zuerst hat es ausgesprochen, daß die sichtbare Welt nur die Erscheinung, und zwar die unvollkommene Erscheinung, einer unsichtbaren sei, daß der Mensch aus dem Diesseits in’s Jenseits flüchten, das gegenwärtige Leben als Vorbereitung für ein künftiges benützen solle; er hat jenen ethischen Dualismus begründet, welcher in der Folge der vorher schon in orientalischen Religionen und orphischem Mysterienwesen vorhandenen Ascese zur wissenschaftlichen Rechtfertigung dienen mußte. Eben diese Ethik ist es aber, welche den hauptsächlichsten Grund jener Eigenthümlichkeiten enthält, in denen die platonische Politik mit dem mittelalterlichen Kirchen- und Staatswesen zusammentrifft. Auf ihr beruht dort die Herrschaft der Philosophen, hier die der Priester, denn wenn die Einzelnen und die Staaten die höchsten Gesetze ihres Thuns in einer jenseitigen Welt zu suchen haben, so werden sie der Leitung derer folgen müssen, welchen jene höhere Welt, sei es von der Wissenschaft oder von der Offenbarung, erschlossen ist. Aus ihr stammt in der altchristlichen Sittenlehre die Forderung jener Weltentsagung, die in einer mönchischen Tugend ihren höchsten Ausdruck findet; in der platonischen der Grundsatz, daß der Mensch auf alle persönlichen Zwecke verzichten solle, um nur für’s Ganze zu leben, die Verkennung der Rechte, welche der

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Zeller: Der platonische Staat in seiner Bedeutung für die Folgezeit. In: Historische Zeitschrift Bd. 1. Literarisch-artistische Anstalt der J. G. Cotta’schen Buchhandlung, München 1859, Seite 119. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Historische_Zeitschrift_Bd._001_(1859)_119.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)