Seite:Historische Zeitschrift Bd. 001 (1859) 120.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Individualität zukommen, und die Unterdrückung ihrer Freiheit. Durch jene ethischen Voraussetzungen war es bedingt, daß Plato seinem Staate das gleiche Ziel steckte, welches in der Folge die christliche Kirche sich gesteckt hat, die Menschen sittlich und religiös zu erziehen, sie mehr noch für’s Jenseits als für’s Diesseits zu bilden. Wenn daher beide in vielen und eingreifenden Zügen zusammentreffen, so ist dieß höchst natürlich: die sittliche Weltansicht, welche dem platonischen Staat zu Grunde liegt, hat sich nachher, mit andern Elementen verschmolzen, in der christlichen Kirche weiter entwickelt; wer könnte sich wundern, daß der gleiche Boden gleichartige Früchte getragen hat? Erscheint doch unser Philosoph auch noch in mancher weitern Beziehung als ein Vorläufer des Christenthums, welcher diesem nicht etwa nur für seine äußere Ausbreitung im griechischen Volke den Weg geebnet, sondern auch den, welchen es selbst in seiner inneren Entwicklung zu gehen hatte, theilweise vorgezeichnet hat. Jene reine und erhabene Gottesidee z. B., welche an der Spitze seines Systems steht, war eine von den eingreifendsten Normen der altchristlichen, wie schon der jüdisch-alexandrinischen Dogmatik; jene Reform der Volksreligion auf welche er in der Republik dringt, jene Beseitigung unwürdiger Vorstellungen über die Gottheit, die er verlangt, ist vom Christenthum vollbracht worden; jenen sittlichen Geist, in dem er die Religion aufgefaßt wissen will, hat es in sich aufgenommen; jenes Gebot der Feindesliebe, das eine Perle der evangelischen Moral ist, finden wir vorher schon, und in dieser grundsätzlichen Allgemeinheit zuerst bei Plato, wenn er (eben in seinem „Staat“) ausführt, der Gerechte werde auch dem Feinde nie Böses zufügen, denn dem Guten komme es nicht zu, Anderes zu thun, als Gutes. Wer in den Griechen nur „Heiden“ zu sehen gewohnt ist, dem mögen solche Züge, die sich ohne Mühe vermehren ließen, befremden: einer wahrhaft historischen Betrachtung werden sie nur das Gesetz der geschichtlichen Continuität bekräftigen.

Weit entfernter ist das Verhältniß der platonischen Politik zu den gegenwärtigen Zuständen des Staats und der Gesellschaft. Von einer Einwirkung Plato’s kann hier kaum die Rede sein, außer wiefern dieselbe durch seine Bedeutung für die ältere Zeit vermittelt ist; die Einrichtungen der Gegenwart haben sich im Wesentlichen selbständig,

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Zeller: Der platonische Staat in seiner Bedeutung für die Folgezeit. In: Historische Zeitschrift Bd. 1. Literarisch-artistische Anstalt der J. G. Cotta’schen Buchhandlung, München 1859, Seite 120. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Historische_Zeitschrift_Bd._001_(1859)_120.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)