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23. Es ist hier nur meine Absicht gewesen, das Feld der vergleichenden Sprachuntersuchungen im Ganzen zu überschlagen, ihr Ziel festzustellen und zu zeigen, daß, um es zu erreichen, der Ursprung und die Vollendung der Sprachen zusammengenommen werden muß. Nur auf diesem Wege können diese Forschungen dahin führen, die Sprachen immer weniger als willkührliche Zeichen anzusehen und auf eine, tiefer in das geistige Leben eingreifende Weise, in der Eigenthümlichkeit ihres Baues Hülfsmittel zur Erforschung und Erkennung der Wahrheit, und Bildung der Gesinnung und des Charakters aufzusuchen. Denn wenn in den zu höherer Ausbildung gediehenen Sprachen eigene Weltansichten liegen, so muß es ein Verhältniß dieser nicht nur zu einander, sondern auch zur Totalität aller denkbaren geben. Es ist alsdann mit den Sprachen wie mit den Charakteren der Menschen selbst, oder um einen einfacheren Gegenstand zur Vergleichung zu wählen, wie mit den Götteridealen der bildenden Kunst, in welchen sich Totalität aufsuchen und ein geschlossener Kreis bilden läßt, da jedes das allgemeine, als gleichzeitiger Inbegriff aller Erhabenheiten nicht individualisirbare Ideal von Einer bestimmten Seite darstellt. Daß dies je in irgend einer Gattung der Vorzüge rein vorhanden wäre, darf man allerdings nicht wähnen, und man würde der Wirklichkeit nur Gewalt anthun, wenn man Charakter- und Sprachverschiedenheiten historisch so darstellen wollte. Allein die Anlagen und nur nicht rein durchgeführten Richtungen sind vorhanden, und es läßt sich weder bei Menschen und Nationen, noch bei Sprachen eine Charakterbildung (die nicht Unterwerfung der Aeusserungen unter ein Gesetz, sondern Annäherung des Wesens an ein Ideal ist) denken, als wenn man sich auf einer Bahn begriffen ansieht, deren, durch die Vorstellung des Ideals gegebene Richtung bestimmte andere, erst alle Seiten desselben erschöpfende voraussetzt. Der Zustand der Nationen, auf welchem dies in ihren Sprachen Anwendung finden kann, ist der höchste und letzte, zu welchem Verschiedenheit der Völkerstämme führen kann; er setzt verhältnißmäßig große Menschenmassen voraus, weil die Sprachen diese erfordern, um sich zu ihrer Vollendung zu erheben. Ihm zum Grunde liegt der niedrigste, von dem wir ausgingen, der aus der unvermeidlichen Zerstückelung und Verzweigung des Menschengeschlechts entsteht und dem die Sprachen ihren Ursprung schuldig sind; dieser setzt viele und kleine Menschenmassen voraus, weil das