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Dieses Zusammenfließen mehrerer Mundarten ist eins der hauptsächlichsten Momente in der Entstehung der Sprachen; es sei nun, daß die neu hervorgehende mehr oder weniger bedeutende Elemente von den andern sich mit ihr vermischenden empfange, oder daß, wie es bei der Verwilderung und Ausartung gebildeter Sprachen geschieht, des Fremden wenig hinzukomme, und nur der ruhige Gang der Entwicklung unterbrochen, die gebildete Form verkannt und entstellt, und nach anderen Gesetzen gemodelt und gebraucht werde.

7. Die Möglichkeit mehrerer, ohne alle Gemeinschaft unter einander, hervorgegangener Mundarten, läßt sich im Allgemeinen nicht bestreiten. Dagegen giebt es auch keinen nöthigenden Grund, die hypothetische Annahme eines allgemeinen Zusammenhanges aller zu verwerfen. Kein Winkel der Erde ist so unzugänglich, daß er nicht Bevölkerung und Sprache habe anderswoher bekommen können; und wir vermögen nicht einmal über die, von der jetzigen vielleicht ganz verschiedene ehemalige Vertheilung der Meere und des festen Landes abzusprechen. Die Natur der Sprache selbst, und der Zustand des Menschengeschlechts, so lange es noch ungebildet ist, befördern einen solchen Zusammenhang. Das Bedürfniß, verstanden zu werden, nöthigt, schon Vorhandenes und Verständliches aufzusuchen, und ehe die Civilisation die Nationen mehr vereinigt, bleiben die Sprachen lange im Besitz kleiner Völkerschaften, die, eben so wenig geneigt, ihre Wohnsitze dauernd zu behaupten, als fähig, sie mit Erfolg zu vertheidigen, sich oft gegenseitig verdrängen, unterjochen und vermischen, was natürlich auf ihre Sprachen zurückwirkt. Nimmt man auch keine gemeinschaftliche Abstammung der Sprachen ursprünglich an, so mag doch leicht später kein Stamm unvermischt geblieben sein. Es muß daher als Maxime in der Sprachforschung gelten, so lange nach Zusammenhang zu suchen, als irgend eine Spur davon erkennbar ist, und bei jeder einzelnen Sprache wohl zu prüfen, ob sie aus Einem Gusse selbstständig geformt, oder in grammatischer oder lexicalischer Bildung mit Fremdem, und auf welche Weise vermischt ist?

8. Drei Momente also können zum Behuf einer prüfenden Zergliederung der Sprachen unterschieden werden:

die erste, aber vollständige Bildung ihres organischen Baues;
die Umänderungen durch fremde Beimischung, bis sie wieder zu einem Zustande der Stätigkeit gelangen;