Seite:Humbold ueber das vergleichende sprachstudium 1920.pdf/6

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Griechischen und Römischen Literatur, und da beide nicht zu gleicher Zeit blühten, auch so nur unvollkommen bekannt.

10. Der Kürze wegen, will ich, mit Uebersehung der kleinen Unrichtigkeit, welche daraus entsteht, daß die Ausbildung auch auf den schon feststehenden Organismus Einfluß hat, und daß dieser, auch ehe er diesen Zustand erreichte, schon die Einwirkung jener erfahren haben kann, die beiden beschriebenen Theile des vergleichenden Sprachstudiums durch

die Untersuchung des Organismus der Sprachen, und
die Untersuchung der Sprachen im Zustande ihrer Ausbildung bezeichnen.

Der Organismus der Sprachen entspringt aus dem allgemeinen Vermögen und Bedürfniß des Menschen zu reden, und stammt von der ganzen Nation her; die Cultur einer einzelnen hängt von besonderen Anlagen und Schicksalen ab, und beruht großentheils auf nach und nach in der Nation aufstehenden Individuen. Der Organismus gehört zur Physiologie des intellectuellen Menschen, die Ausbildung zur Reihe der geschichtlichen Entwickelungen. Die Zergliederung der Verschiedenheiten des Organismus führt zur Ausmessung und Prüfung des Gebiets der Sprache und der Sprachfähigkeit des Menschen; die Untersuchung im Zustande höherer Bildung zum Erkennen der Erreichung aller menschlichen Zwecke durch Sprache. Das Studium des Organismus fordert, soweit als möglich, fortgesetzte Vergleichung, die Ergründung des Ganges der Ausbildung, Isoliren auf dieselbe Sprache, und Eindringen in ihre feinsten Eigenthümlichkeiten, daher jenes Ausdehnung, dieses Tiefe der Forschung. Wer folglich diese beiden Theile der Sprachwissenschaft wahrhaft verknüpfen will, muß sich zwar mit sehr vielen verschiedenartigen, ja, wo möglich, mit allen Sprachen beschäftigen, aber immer von genauer Kenntniß einer einzigen, oder weniger, ausgehen. Mangel an dieser Genauigkeit bestraft sich empfindlicher, als Lücken in der doch nie ganz zu erreichenden Vollständigkeit. So bearbeitet kann das Erfahrungsstudium der Sprachvergleichung zeigen, auf welche verschiedene Weise der Mensch die Sprache zu Stande brachte, und welchen Theil der Gedankenwelt es ihm gelang in sie hinüber zu führen? wie die Individualität der Nationen darauf ein-, und die Sprache auf sie zurückwirkte? Denn die Sprache, die durch sie erreichbaren Zwecke des Menschen überhaupt, das Menschengeschlecht in seiner fortschreitenden Entwicklung, und die einzelnen Nationen sind die vier Gegenstände, welche