Seite:Humbold ueber das vergleichende sprachstudium 1920.pdf/8

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

und Sprachvermögens aller Nationen, die letzten durch die Individualität jeder einzelnen. Durch diesen doppelten Zusammenhang erst wird erkannt, in welchem Umfang der Verschiedenheiten das Menschengeschlecht, und in welcher Consequenz ein einzelnes Volk seine Sprache bildet, und beide, die Sprache und der Sprachcharakter der Nationen, treten in ein helleres Licht, wenn man die Idee jener in so mannichfaltigen individuellen Formen ausgeführt, diesen zugleich der Allgemeinheit und seinen Nebengattungen gegenüber gestellt erblickt. Die wichtige Frage, ob und wie sich die Sprachen, ihrem inneren Bau nach, in Classen, wie etwa die Familien der Pflanzen, abtheilen lassen, kann nur auf diese Weise gründlich beantwortet werden. Das bisher darüber Gesagte bleibt, wie scharfsinnig es geahnet sein möchte, ohne strengere factische Prüfung, dennoch nur Muthmaßung. Die Sprachkunde, von der hier die Rede ist, darf sich aber nur auf Thatsachen, und ja nicht auf einseitig und unvollständig gesammelte stützen. Auch zu der Beurtheilung der Abstammung der Nationen von einander nach ihren Sprachen müssen die Grundsätze durch eine noch immer mangelnde genaue Analyse solcher Sprachen und Mundarten gefunden werden, deren Verwandtschaft anderweitig historisch erwiesen ist. So lange man nicht auch in diesem Felde vom Bekannten zum Unbekannten fortschreitet, befindet man sich auf einer schlüpfrigen und gefährlichen Bahn.

12. Wie genau und vollständig man aber auch die Sprachen in ihrem Organismus untersuche, so entscheidet, wozu sie vermittelst desselben werden können, erst ihr Gebrauch. Denn was der zweckmäßige Gebrauch dem Gebiet der Begriffe abgewinnt, wirkt auf sie bereichernd und gestaltend zurück. Daher zeigen erst solche Untersuchungen, als sich vollständig nur bei den gebildeten anstellen lassen, ihre Angemessenheit zur Erreichung der Zwecke der Menschheit. Hierin also liegt der Schlußstein der Sprachkunde, ihr Vereinigungspunkt mit Wissenschaft und Kunst. Wenn man sie nicht bis dahin fortführt, nicht die Verschiedenheit des Organismus in der Absicht betrachtet, dadurch die Sprachfähigkeit in ihren höchsten und mannichfaltigsten Anwendungen zu ergründen, so bleibt die Kenntniß einer großen Anzahl von Sprachen doch höchstens für die Ergründung des Sprachbaues überhaupt, und für einzelne historische Untersuchungen fruchtbar, und schreckt den Geist nicht mit Unrecht von dem Erlernen einer Menge von Formen und Schällen zurück, die am Ende doch immer