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„Es war eine gar liebliche Nacht, die diesem Tage folgte. Ich konnte nicht recht an die Schuld des Mädchens glauben, obgleich der vieldeutige Unglücksbrief mehr gegen als für sie sprach, aber als ich am andern Morgen zu Curt kam, sagte mir sein fahles, finsteres Gesicht mit den festgeschlossenen Lippen und den blauen Ringen unter den müden, erloschenen Augen, daß es ganz vergebens sein würde, einer andern Auslegung der traurigen Zeilen das Wort zu reden. Er schnitt meine schüchternen Versuche, ihn zum Reden zu bringen und ihn so dem Banne seiner unheimlichen Starrheit zu entreißen, mit einem lakonischen: ‚Kein Wort mehr von ihr!‘ ab und sagte endlich bitter: ‚Machen Sie Sich keine Sorge um mich, – ich verwind’s schon, wenn auch vielleicht nicht hier!‘ Ich war daher zwar recht betrübt, aber garnicht erstaunt, als ich am nächsten Morgen einen Brief erhielt, in dem er mir wieder das brüderliche Du gab und mir anzeigte, daß er Prag verlassen habe, ohne zu wissen, wohin er gehe – nur fort, und ohne daß er sagen könne, wann und ob er wiederkehre. Es gehe ein tiefer Riß durch sein ganzes Wesen, und da er nun einmal zu den Menschen gehöre, die nichts halb, die alles ganz thun, so schüttle er nicht blos den Staub der Moldaustadt von seinen Füßen, sondern habe auch als Offizier quittirt; er wolle durch nichts an diese Episode in seinem Leben fortdauernd erinnert sein, und auch dem Onkel möge er so – mit gebrochnem Stolz – nicht gegenübertreten. Er schäme sich vor seinen Kameraden, mehr und bittrer noch vor sich selbst; wollte er bleiben, so müsse er ersticken, und wenn überhaupt, so werde er über einer neuen Szenerie, über Arbeit und Abenteuern und Gefahren am ehesten vergessen, daß die Tragödie, in der er mit Leib und Seele agirt, von seiner Mitspielerin zur Posse herabgezogen worden sei.‘ Das war alles, – es klang, als sei ihm jedes Wort blutsauer geworden. Er war also fort, – keine Seele wußte, wohin, und ich habe weder ihn, noch das schöne Mädchen wiedergesehen, bis auf den heutigen Tag. Etwa vier Wochen später kam ein rekommandirter Brief an mich, mit dem Poststempel Straßburg, der einen verschlossenen Brief an Curt enthielt; auf einem Zettelchen wurde ich von Leontine gebeten, diesen Brief Curt zuzustellen, aus dem Stempel aber ja keinen Schluß auf ihren Aufenthaltsort zu ziehen, denn ein solcher Schluß würde sich als trügerisch erweisen. Der Brief liegt heute noch ungeöffnet in meinem Schreibtisch, denn Curt hat nie wieder etwas von sich hören lassen, und auch Leontine war und ist spurlos verschollen.

„Das ist meine Geschichte – die Nutzanwendung macht euch selber.“ Damit nahm der Maler, um dessen Lippen es wunderlich zuckte, seinen Schlapphut, drückte ihn tief in die Augen und ging; man ehrte seine Bewegung und niemand versuchte, ihn zurückzuhalten.

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Nicht viele Wochen später, an einem milden Aprilabend, sah Reinisch beim Nachhausekommen von einem Spaziergang im Stadtpark Licht in seiner Wohnung, und die öffnende Magd berichtete, ein vornehmer Herr, den sie noch nie gesehen, erwarte schon seit zwei Stunden seine Rückkehr. Es war dem Maler räthselhaft, wer das wohl sein könne, als er aber in sein Zimmer trat, als eine mittelgroße, ebenmäßige Gestalt sich vom Divan erhob und eine sonore und doch weiche Stimme halb launig, halb herzlich sagte: „Da wären wir also wieder, – kennst du mich noch?“, da stutzte er nur einen Moment, dann jubelte er auf: „So wahr ich lebe, Curt, mein Herzensjunge, – bist du wieder da?“ und umarmte ihn mit ungestümer, fast väterlicher Zärtlichkeit. Dann schob er seinen jungen Freund an beiden Schultern von sich, hielt ihn fest, um sein Gesicht zu studiren, und sagte mehr zu sich als zu ihm: „Wie verwettert und männlich und kühn er aussieht und wie ihm die Narbe steht! Und wo hat der tolle Mensch diese langen sechs Jahre gesteckt, was hat er draußen in der Welt getrieben und wie ist’s ihm gegangen?“

Er sollte alles erfahren, aber das ward eine lange Geschichte, und bis in den jungen Tag hinein saßen die beiden rauchend vor den Gläsern, in denen der Ungar perlte, und Curt erzählte, wie er drüben in Amerika an den großen Seen den Civilingenieur gespielt und auf die Runde vom Ausbruch des russisch-türkischen Kriegs sein Bündel geschnürt habe, um in Kars und Batum Schanzen zu bauen und – sich die Narbe zu holen. Er hatte mit dem ganzen Eigensinn des Schmerzes und der Beschämung jedes Band zwischen sich und der Heimat zerschnitten, keine deutsche Zeitung angerührt und weder seiner Familie noch seinen Freunden Nachricht gegeben; er hatte um jeden Preis vergessen wollen und doch nicht vergessen können, denn wenn es auch den Tag über gelang, – des Nachts, wenn der Wind gegen die Zeltwände stieß oder er am verglimmenden Wachtfeuer lag und emporsah zu den flimmernden Sternen, hatten ihm die Gedanken keine Ruhe gelassen, die Zweifel hatten sich immer hartnäckiger an ihn geheftet und das Ende vom Liede, das Resultat aller inneren Kämpfe war schließlich doch gewesen, daß er sich wieder nach der Heimat aufgemacht hatte.

„Ich hätte es früher, viel früher thun sollen!“ sagte Curt nachdenklich, „denn weißt du, Reinisch, daß ich damals recht knabenhaft-trotzig gehandelt habe und – daß Leontine doch unschuldig war?“

Der Maler horchte hoch auf und fragte hastig: „Und du hast sie wiedergefunden?“

„O nein, und ich weiß, ich werde sie auch nicht wiederfinden; aber sieh, daß ich sie nie mein nennen werde, quält mich nicht mehr so, seit ich ihr Bild reinwaschen konnte von dem häßlichen Flecken, der ihm anhaftete. Nun hab’ ich sie wieder lieb, nun brauche ich mir selbst nicht mehr verächtlich vorzukommen, wenn sie immer wieder vor dem Auge der Phantasie auftaucht, und weil ich das längst wußte, wäre ich damals nicht in Scham und Trotz auf und davon gegangen, darum nenne ich die Jahre in der Fremde verloren.“

Der Maler sah ihn erwartungsvoll an und Curt fuhr fort:

„Wahrscheinlich weißt du garnicht, daß Borkiewicz gestorben ist, nur acht Wochen nach dem Duell? Du hast ja, wie ich in Prag hörte, der Moldaustadt bald den Rücken gekehrt. Zu der Wunde, die bei des liederlichen Kumpans verdorbenen Säften sehr langsam heilte, kam eine starke Kopfrose, und an der ist er in Dresden, wohin er sich nach dem Duell hatte bringen lassen, gestorben. Angesichts des Todes hat er eine Erklärung diktirt und unterschrieben, welche er seinem Sekundanten Rajacic übergab und durch welche er bekannte, seine Behauptung theils aus Rachsucht gegen Leontine, theils aus Neid gegen mich aufgestellt und sie meinem schroffen Auftreten gegenüber aus Trotz und – Ehrgefühl aufrecht erhalten zu haben. Diese versiegelte Erklärung konnte man mir erst jetzt zustellen, – und nun läßt allerdings Leontinens schmerzlich-verworrener Brief die Deutung, die mir damals ein unseliges Zusammentreffen von Umständen fast aufzwang, garnicht mehr zu –“

„Und wir müssen ihr wohl selber das Wort geben!“ unterbrach der Maler aufspringend, und Curt fragte erbleichend:

„Hast du einen Brief von ihr – an mich – und seit wann?“

„Noch ein paar Wochen länger, als der Herr Rajacic das Schuldbekenntniß des Ulanen – ach, Curt, warum bist du uns damals auf und davon gegangen, warum hast du nicht wenigstens einmal geschrieben?“

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Rudolf Lavant: Idealisten. , Leipzig 1880, Seite 610. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Idealisten_51_63.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)