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Illustrirte Zeitung, Nr. 4 vom 22. Juli 1843


1843 wurde die letzte Schiene gelegt. – Die Schnelligkeit, mit der die Arbeiten vollführt sind, hat aber keineswegs ihre Tüchtigkeit beeinträchtigt. Nichts ist auf den Schimmer gebaut; Alles ernst und gewissenhaft behandelt. Nichts fällt pfuscherhaft ins Auge, sondern überall spricht sich das Gepräge ausgezeichneter, meisterhafter Bauart aus. Und in diesem Punkte ging das Interesse der Gesellschaft und des Publicums mit der Eigenliebe des Ingenieurs Hand in Hand, denn eine Concession von 99 Jahren ist einem Monopol gleichzuschätzen.

Doch genug der ernsten statistischen Betrachtungen; hinaus in die schöne Landschaft! Wir wollen uns auf den offenen Wagen setzen und die frische Luft nicht scheuen; können wir uns doch um so besser umsehen. – Es ist ein Hochgenuß, durch die blühenden Gefilde zu fliegen! Im Vorüberzuge tauchen schimmernde Häuser, Kirchthurmspitzen vor unseren Augen auf und verschwinden wieder, schnell wie eine optische Erscheinung. Jeden Augenblick entfalten sich neue Bilder auf unserm Fluge von dem mächtigen Paris bis zur stolzen Stadt der Jungfrau von Orléans.

Sobald wir die Thore von Paris hinter uns haben, durchschneiden wir die Fluren von Ivry, Vitey und Choisy-le-Roi, wir befinden uns unter den Kanonen der Festung Ivry. Warum donnern sie uns nicht ein Willkommen zu, die wir auf den Siegesschwingen der Industrie vorüberbrausen? Möchten sie doch ihren ehernen Mund immer nur aufthun, um die Vervollständigung der ehernen Freundschaftsbande der Nationen zu feiern; niemals aber zu deren Zertrümmerung. Auf der ganzen Wegstrecke bis Juvisy, wo die Zweigbahn nach Corbeil abgeht, überblickt man den Lauf der Seine und ihre reiche Thalebene; hier taucht ein Schloß hinter dichten Buchen auf, dort ragt der hohe Schornstein einer Fabrik hervor und kräuselt seine schwarzen Wolken empor. Ueberall Wohlstand, Leben und Bewegung! –

Von Juvisy ab wendet sich die Bahn mit einem Bogen von 1500 Meter Halbmesser in der Richtung nach Etampes und läuft bald darauf unter der Chaussee durch, welche von Antibes nach Paris führt. Der Brückenbogen dieses Uebergangs hat 8 Meter Spannung und 5 Meter Höhe und ist, wie alle Bauwerke dieser Linie es sind, dauerhaft von Stein aufgeführt. Die Chaussee hat dieses Ueberganges wegen zu beiden Seiten auf eine lange Strecke zu einer Neigung von 3 Centimeter in 1 Meter erhöht werden müssen. –

Nicht weit davon entfernt öffnet sich uns das Thal der Orges, oder vielmehr das „Thal der Schlösser“. Denn zwischen Jusivy und Arpajon ist Alles bedeckt mit den prächtigen Landsitzen französischer Großen, der Bankiers, der Pairs, der Generale. Schlösser aus allen Zeitaltern! Einige reichen bis ins 11. Jahrhundert zurück, während andere kaum die Hand des Baukünstlers verlassen zu haben scheint. Als zwei große Wahrzeichen auf diesem architectonisch angebauten Felde wechselnder Erinnerungen steigt dort der Thurm von Montlhéry empor, der gegen den Himmel zu murren scheint: warum nicht, wie ehedem, jetzt noch zitternde Vasallen zu seinen Füßen schleichen; und auf dieser Seite trauert die Thurmruine von Etampes mit ihren halb eingestürzten riesigen Mauern, an denen der Zahn der Zeit seit dem 10. Jahrhundert genagt hat, wo, wie man glaubt, die alte Zwingburg gebaut wurde.

Die Eisenbahn hat in mehren Fällen, trotz des Widerstrebens der Eigenthümer, die schönen Parks dieser Schlösser und Landsitze durchschnitten. Der Gewerbfleiß hat das Gesetz für sich; er ist der Allmächtige, vor ihm versinken die Reste mittelalterlicher Herrlichkeit! Was würden die alten Ritter sagen, welche zu ihrer Zeit von ihren Adlerhorsten herunterstiegen, um ihre Nachbarn zu befehden, und, man kann es nicht verhehlen, zuweilen auch die Reisenden zu plündern, was würden sie sagen, diese alten Barone, welche niedere und hohe Gerichtsbarkeit besaßen und das schöne Herrenrecht, was sie so ungern aufgegeben haben, wenn sie, den Hut unterm Arme, vor dem Gewerbfleiß erscheinen und ihn noch begrüßen müßten, wenn derselbe ihr Eigenthum durchgraben, ihre Wässer abdämmen, ihre Forsten niederschlagen will? – Gewiß, sie würden glauben, der Welt Ende sei nahe und Alles stürze in einen ewigen Ruin zusammen. – Und dennoch geschieht dies Alles, ohne daß die Sonne minderen Glanz, wie ehedem, hätte. Ja! sie geht täglich über neue Fortschritte auf, welche die Entwickelung des Menschengeistes hervorbringt. Davor aber mußten die Vorrechte Einzelner stürzen, und das Wohl der Gesammtheit sich auf den Trümmern erheben. Die rohe Kraft, die Gewalt des Stärkern hat zu herrschen aufgehört. Das Reich des Geistes ist angebrochen. Die Zeiten sind glücklicher Weise vorüber, von denen der Dichter sagt:

„Der erste König war ein glücklicher Soldat.“

Es genügt nicht mehr, stark zu sein, um zu regieren, man muß zugleich weise und klug sein. Deswegen sitzt heut’ zu Tage auch die Industrie mit den Großen und Reichen zu Tische, aber – alle Achtung – mit demjenigen Anstand, der sich ziemt. – So hat allerdings die Eisenbahn die Parks ihrer ganzen Länge nach durchschnitten, aber sie hat zierliche Wegübergänge gebaut, so viele man immer verlangt hat; ebenso oft eiserne Geländer und Brücken unter der Bahn, so daß die Mannigfaltigkeit der Schönheiten der Parks nur erhöht wird durch die Bahn, mit ihren Locomotiven und Tausenden von Reisenden, die wie ein Guckkastenbild vorüberziehen.

Wir befinden uns mit auf dem Zuge, durchdampfen das Thal von Orges und das von Yvette. Die beiden Flüsse sind überbrückt, die Yvette mittelst dreier Bogen von 8 Meter Spannung und 14 Meter Höhe. Nichts Reizenderes, als diese Thalübergänge; weit vermag das Auge den Wendungen der Flüsse zu folgen, wie sie durch Wiesen, Grün und Bäume ihre Silberstreifen ziehen.

Wir halten zu Saint-Michel vor dem prächtigen modernen Schloß von Lormoy, welches Herrn Paturle – einem bedeutenden Fabrikanten – gehört, und wo ein artesischer Brunnen von 120 Meter Tiefe zur Speisung der Locomotiven gebohrt ist, und setzen unsere Fahrt durch die reizende früchte- und ereignißreiche Umgegend von Paris fort. Beinahe mit jeder Raddrehung der Locomotive treten neue Bilder hervor, aber es ist unmöglich, ihre schönen Umrisse, ihre frische Farbenpracht mit Worten auf das Papier zu zaubern, wir könnten nichts als die Ausdrücke des Entzückens fortdauernd wiederholen; was für unsere Leser, die nicht wirklich im Wagen sitzen und die Herrlichkeit rings umher mit den Augen genießen, von wenig Interesse sein würde. Etampes ist erreicht; von da geht es durch ein trauriges ebenes und unfruchtbares Land, hier ist la Beauce, dort schon Sologne! – Endlich gelangen wir nach Orléans in einen weiten Bahnhof, nach einer Fahrt von 15 Meilen, welche wir in 41/2 Stunden vollendet, und dabei noch über eine Stunde auf dem Wege verweilt haben, auch nicht so rasch gefahren sind, um uns desto besser umzusehen.

Hier in Orléans war es, wo bei der Einweihung am 2. Mai die Prinzen von Frankreich, welche die erste Fahrt mitgemacht hatten, von den Behörden empfangen wurden, wo der Minister Teste im Namen des Königs den drei Directoren Kreuze der Ehrenlegion überreichte und die Ingenieure Jullien und Thoyot einige Grade höher beförderte, wo der Erzbischof von Orléans die Locomotiven einsegnete und der Abbé Fayet eine geistliche Rede hielt. Die Kanonen donnerten dazwischen, die Glocken riefen zur Andacht. Der Prinz von Nemours musterte die Nationalgarde, die schönsten Mädchen von Orléans streuten Blumen, die dreifarbige Fahne wallte in der Luft und von duftenden Blumenketten war Alles überdeckt. Wir sehen sie noch verwelkt herabhängen. Ein großes Festessen machte den Beschluß. Wir aber kehren nach Paris zurück und dann auf den Schwingen der Phantasie wieder nach unserem geliebten Deutschland.

F.

Unser Wochenbericht.
Ausland.

Wir werden in unserm Wochenbericht das Ausland hauptsächlich in seinen Beziehungen zu Deutschland im Auge behalten, d. h. wir werden zunächst diejenigen Ereignisse besprechen, die entweder direct auf unser Vaterland einwirken, oder indirect dasselbe berühren, indem sie den europäischen Frieden bedrohen oder die Stellung der Mächte zu einander und ihre besondere Lage verändern; andere ausländische Ereignisse, die nicht in diese Kategorie gehören, werden wir entweder nur kurz erwähnen oder denselben, wenn sie pittoresker Art sind, in dem illustrirten Theile des Blattes eine passende Stelle anweisen. Ganz gleichgültig kann uns dagegen sein, was in Frankreich oder in England der flüchtige Moment Flüchtiges vorüberführt und dort als müßiges Gerede die Leute unterhält. Allerdings ist in England und in Frankreich der Herd der europäischen Politik; allerdings darf in der ganzen Welt keine Kriegskanone abgefeuert werden, ohne daß die englische und die französische Nation ihre Zustimmung dazu ertheilen, aber darum ist das, was in ihren Zeitungen und selbst in ihren Parlamenten verhandelt wird, nicht immer Geschichte und Politik, oder auch nur von dem mindesten Einfluß auf der Menschheit Wohl und Wehe. Es ist traurig genug, das Uebergewicht des Auslandes, wo es wirklich vorhanden, nämlich in den großen Weltbegebenheiten, anerkennen zu müssen. Aber warum sollen wir es auch in den kleinen Ereignissen thun, wo es nicht vorhanden ist? Und welchem Umstande, fragen wir, haben jene beiden Nationen ihr großes Uebergewicht zu verdanken? Ihrer politischen Einheit und dem Bewußtsein ihrer geistigen wie ihrer materiellen Macht! Zu dem Einen wie zu dem Andern wären sie nie gelangt, wenn sie nicht stets mehr auf sich und ihre eigene Geschichte, als auf das Geberden ihrer Nachbarn geblickt hätten. Thaten sie das Letztere ja, so geschah es immer nur, um aus dem Hader der Fremden für sich selber Vortheil zu ziehen. Immer aber blieben sie sich selbst zunächst Zweck; ja, würden sie sich nicht stets in die Mitte der Ereignisse gestellt haben, sie hätten bald auch statt der Rolle der Handelnden die der müßigen Zuschauer übernehmen müssen.

Frankreichs und Englands Bewegungen sind es zunächst, auf die unser Augenmerk sich richtet, um darnach zu beobachten, ob und wie auch Deutschland in den Kreis der europäischen Conflicte gezogen werden kann. Nächst jenen Beiden ist es das scheinbar unbewegliche Rußland, das, so sehr wir auch seit dem Jahr 1830 gewohnt sind, seine Kriegsgelüste gedämpft zu sehen, doch gewiß einmal die Zeit wahrzunehmen wissen wird, in welcher es mit größerer Wahrscheinlichkeit eines günstigen Erfolgs seine auf die Donau-Länder der Türkei gemachten Pläne in Ausführung bringen kann. Der letzte Hofpodaren- und Fürstenwechsel in der Wallachei und in Serbien hat uns neue Einblicke in diese Pläne[WS 1] gewährt, deren nächstes Augenmerk allerdings nur auf die Beseitigung solcher Personen und Zustände gerichtet ist, die den Einflüssen Rußlands weniger zugänglich sind und seinen Absichten nicht dienen wollen.

Fürst Alexander Ghika, einer in der Wallachei viel verbreiteten Fanarioten- und Bojaren-Familie angehörig, ist seines Hofpodariates durch einen Ferman des Sultans verlustig erklärt und an seiner Stelle der Bojar Bibesko gewählt und von der Pforte bestätigt worden. Fürst Alexander Ghika hatte die Gunst der russischen Schutzmacht durch einen Versuch, sich von derselben unabhängiger zu machen, verscherzt, wogegen die Familie Obrenowitsch in Serbien, die fast gleichzeitig mit jenem der Herrschaft verlustig ging und deren Absetzung ebenfalls von der Pforte bestätigt ward, keineswegs auch in gleichem Maße die Gunst der russischen Regierung verloren zu haben scheint. Doch scheint weniger dies, als der Umstand gewiß, daß Rußland in den neugewählten Fürsten Alexander Georgiewitsch, einen Sohn des tapfern, um die serbische Freiheit so sehr verdienten Cerny Georg, kein Vertrauen setzt, welches er vielleicht gerade darum verscherzte, weil er in Rußland erzogen späterhin den russischen Lehren kein Gehör geben wollte. Am 5. April hatte der russische Botschafter in Konstantinopel, Herr von Buteniew, der Pforte ein Ultimatum übergeben, worin auf die Abdankung, oder im Weigerungsfalle auf die Absetzung des Alexander Georgiewitsch, so wie auf die Anordnung einer neuen Fürstenwahl und auf die Zurückberufung des türkischen Commandanten von Belgrad, Kiamil-Pascha, gedrungen ward. Die Pforte würde dieser Forderung Rußlands schon früher nachgegeben haben, wenn sie sich nicht auf den Beistand Englands und Frankreichs verlassen hätte, und in der That hat der brittische Premier-Minister Sir Robert Peel auf eine im Parlament an ihn gerichtete Frage noch am 24. April Folgendes erklärt, „daß der Einfluß, welchen die englische Regierung anwenden möchte, nur in dem Sinne werde ausgeübt werden, zu verhindern, daß der Türkei Bedingungen abgedrungen werden, welche ihrer Integrität und Unabhängigkeit nachtheilig sein könnten.

Gleichwohl hat die Pforte in einer am 12. April gehaltenen Divanssitzung, bei welcher auch der russische Botschafter zugegen war, den Beschluß gefaßt, den Forderungen Rußlands, denen sich auch Oestreich angeschlossen hatte, nachzugeben. Der englische Botschafter, Sir Stratford Canning, scheint darin eine Bedrohung der Integrität und Unabhängigkeit der Türkei nicht erkannt

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Plane
Empfohlene Zitierweise:
: Illustrirte Zeitung, Nr. 4 vom 22. Juli 1843. J. J. Weber, Leipzig 1843, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Illustrirte_Zeitung_1843_04.pdf/6&oldid=- (Version vom 6.1.2019)