Seite:Illustrirter Deutscher Jugendschatz 65.jpg

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Ein Tag auf Mitten-Java.
Von R. Cr.

Eine kurze, geheimnißvolle Dämmerung — der Tag bricht an. Das Gestirn des Tages kennt in den heißen Gegenden nicht den Kampf mit der Nacht, siegreich überwindet es in einem Augenblick die Dunkelheit; urplötzlich, fast unvermittelt grüßt die ewige Sonne den jungen Tag, und Leben, unversiegliche Kraft und Fülle lockt sie mit ihren glühenden Strahlen aus dem fruchtbaren Erdreich.

Leise und kosend streicht ein sanfter, erfrischender Wind durch das Schilf am Bergsee und flüsternd neigen sich die Halme einander zu, als erzählten sie sich süße Märchen von den Wundern des kommenden Tages, von den Geheimnissen der vergangenen, sterndurchglühten Nacht. In dem Laub des nahen Waldes wird es lebendig. In seiner schweigenden Pracht, seiner heiligen unentweihten Stille gleicht er bis jetzt noch einem ungeheuren Dom, gellend aber wird die Stille unterbrochen — ein Heer goldgefiederter, farbenglühender Papageien schwingt sich bald kletternd, bald fliegend von Ast zu Ast — weithin erschallt ihr kreischender Morgengesang.

Dort unten theilt sich das Schilf. Leise und vorsichtig naht sich die schlanke Gazelle der Tränke, mißtrauisch und scheu blickt sie mit den feuchtglänzenden, großen Märchenaugen sich um, sie weiß, daß ihrer Feinde viele sind, und daß nicht nur der Mensch mit seinem spitzen Pfeil oder dem mordenden Blei blutgierig auf sie lauert, auch der Herrscher jener Wälder und Sümpfe, der schleichende Tiger, lechzt nach ihrem Herzblut und wehe ihr, wenn er die gewaltigen Tatzen in ihren schlanken Hals schlägt. Und doch ist der Spiegel des Sees so verlockend, sein klares Wasser ist so einladend, so kühlend und erfrischend, nur noch wenige Schritte und die verdorrende Zunge findet die ersehnte Labung. Noch einmal hebt das graziöse Thier die feinen Nüstern, der Morgenwind soll ihm sagen, ob ein tückischer Räuber in der Nähe ist. Aber der Wind, der mit den Wellen kost und mit den Blüthen spielt, sagt ihm nichts, ahnungslos schreitet die Gazelle vorwärts — da, ein kurzes, dumpfes

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Rudolf Lavant: Ein Tag auf Mitten-Java. Verlag von E. Thiele, Leipzig 1887, Seite 65. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Illustrirter_Deutscher_Jugendschatz_65.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)