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Friedrich Krasser: Anti-Syllabus. In: Internationale Bibliothek Heft 3 (1887)

Von der „besseren Gesellschaft“ ausgenützt und müdgehetzt,
Von der „öffentlichen Meinung“ insultirt und tiefverletzt,

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Geht der Arme ewig trauernd durch der Erde Paradies,

Stumm verzweifelnd an sich selber, weil die Menschheit ihn verstiess.
Allen Andern lacht das Leben, lacht der Freiheit volles Glück,
Ihn allein, den Hoffnungslosen, stösst des Bruders Hand zurück.
Von dem reichen Freudenmahle, welches aller Welt bescheert,

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Seinen Antheil zu geniessen, wird dem Bettler streng verwehrt.

Und was hat er denn verschuldet, dass er wie ein räudig Schaf,
Ausgestossen wird von Jenen, die das Glück ereilt im Schlaf,
Die gestützt auf ihren Stammbaum, deduziren ganz absurd,
Wie das Menschenrecht datire von dem Zufall der Geburt,

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Die da schwelgen in ererbtem oder in geraubtem Gut,

D’ran als Edelstein und Perle klebt des Armen Schweiss und Blut,
Die in Amt und Würden sitzen, weil ihr Vetter sitzt im Rath
Oder sonst als Würdenträger glänzt im würdelosen Staat?
Sagt, ihr Reichen und Beglückten, was verbrach der Proletar,

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Wenn das Weib, das ihn geboren, eure Konkubine war?

Welcher tiefe Abgrund gähnet zwischen euch und eurem Knecht –
Seine Weiber, seine Töchter waren euch doch nie zu schlecht!
Mittelst Geld und glatter Worte, in Genüssen raffinirt,
Habt ihr in der Armuth Hütten Gift und Schande eingeführt,

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Mittelst Zölibat der Pfaffen und Soldatenzölibat

Fröhnt dem Laster und der „Sünde“ der entnervte Christenstaat.
Und nun wollt ihr den verdammen, der verwahrlost und verarmt,
Euren Lüsten fiel zum Opfer, weil sich niemand sein erbarmt?
Hat der Arme, Unterdrückte hinter der gefurchten Stirn

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Nicht ein gleich entwicklungfähig, vollgewichtig Menschenhirn?

Trägt er hinter Schmutz und Lumpen nicht ein Herz, das menschlich schlägt,
Gleich empfänglich für das Gute, wie der Glückliche es trägt?

Doch das habt ihr längst errathen, habt von „Menschlichkeit“ beseelt,
Schul’ und Kirchen ihm errichtet, um zu geben, was ihm fehlt,

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Aber wollt ihr wirklich helfen, gründlich lindern seine Noth –

O verweigert ihm nicht länger des Jahrhunderts geistig Brod!
Gebt ihm Wahrheit, gebt ihm Wissen, statt dem alten Firlefanz,
Dass er menschenwürdig blühe im modernen Völkerkranz.
Schliesst die alten Trödelbuden, die man „Bildungsstätten“ nennt,

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Wo das Alter seine Thorheit uns vermacht im Testament;

Andre Schulen braucht das Leben, braucht der neue Geist der Zeit,
Soll die Schule sich erheben aus der alten Dunkelheit.

Ob dereinst des Weltenvaters allbekannter Werderuf
Jenes Licht, das nicht geleuchtet, an dem zweiten Tage schuf –

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Ob er drauf am vierten Tage Sterne, Sonn’ und Mond gemacht,

Um zu leuchten auf die Erde und zu scheiden Tag und Nacht –
Ob Jehova, der Allmächt’ge, ruhen musste hintennach,
Weil er innerhalb der Woche täglich ein’ge Worte sprach –
Ob mit seiner eig’nen Rippe sich ein Erdenklos gepaart,

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Dann vom Baume der Erkenntniss ass und d’rum verstossen ward –
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Friedrich Krasser: Anti-Syllabus. In: Internationale Bibliothek Heft 3 (1887). Müller, New York 1887, Seite 14. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Internationale_Bibliothek_(M%C3%BCller,_New_York,_1887-1891)_Heft_03_Seite_14.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)