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befand sich in einer seelischen Verfassung, die ein Eingeweihter, wie ich, nur als „verfeinerten Galgenhumor“ bezeichnen konnte. Tante rührte die Speisen nicht an. Der Schreck war ihr so auf die Nerven gefallen, daß sie fraglos längere Zeit gebrauchen würde, um über diese furchtbaren Eindrücke hinwegzukommen. Rührend war es mitanzusehen, wie besorgt mein Onkel um ihr Wohlergehen sich zeigte. Diese beiden alten Leutchen hatten sich trotz der dreißigjährigen Ehe im Verkehr untereinander einen geradezu herzlichen, zärtlichen Ton bewahrt.

„In dieser Wohnung, in der ich mich so wohl fühlte, werde ich nie wieder froh werden, nie wieder,“ meinte Tante Johanna aufseufzend. „Stets werde ich daran denken, daß dort in deinem Zimmer, lieber Rudolf, der Ermordete gelegen hat. Wenn nur unser Mietskontrakt nicht noch zwei Jahre laufen würde! Sonst möchte ich wirklich sofort umziehen.

„Aber, liebes Kind, der Kontrakt darf uns doch nicht abhalten, einen Wohnungswechsel vorzunehmen, wenn dieser zu deinem Wohlbefinden nötig ist,“ wandte Onkel eifrig ein. „Geld spielt doch in solchem Falle keine Rolle. Außerdem ist es ja auch leicht möglich, daß wir die Wohnung anderweit vermieten.“

„So unrecht hast du nicht,“ erklärte Tante, sofort mit Freuden diesen Gedanken aufnehmend. „Jedenfalls will ich mich gleich morgen nach einer passenden Gelegenheit für uns umsehen. Denn auch dir wird dein Arbeitszimmer verleidet sein, Rudolf, nicht wahr? – Außerdem, wir wohnen ja jetzt hier bereits acht Jahre, und in nächster Zeit müßte doch alles renoviert werden. Und so recht herrschaftlich ist die Etage nach den heutigen Ansprüchen auch

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Irrende Seelen. Leipziger Kriminalbücherverlag, Werner Dietsch Verlag, Leipzig 1919, Seite 66. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Irrende_Seelen.pdf/66&oldid=- (Version vom 1.8.2018)