Seite:Irrende Seelen.pdf/94

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Hiller, dessen Pflicht es jetzt eigentlich gewesen wäre, mich der Geheimrätin vorzustellen, schien diese Höflichkeitsform absichtlich unterlassen zu wollen. Ich befand mich daher in der peinlichsten Lage. Denn daß meine Anwesenheit hier im Zimmer des Kommissars und dessen letzte, so auffallende Frage einen besonderen, für mich wenig ehrenvollen Zweck hatte, mußte sich die Dame selbst sagen. So kostete ich denn zum erstennmal das niederdrückende Gefühl aus, als ein unter schimpflichem Verdacht Befindlicher am Pranger zu stehen …! Nur zu schnell hatte sich meine Ahnung erfüllt, daß mein neuer Lebensweg in Schimpf und Schande endigen würde.

Der Kommissar hatte seine Taschenuhr gezogen und nach der Zeit gesehen.

„Würden Sie so liebenswürdig sein, gnädige Frau, und unten im Wartezimmer noch einen Augenblick Platz nehmen,“ wandte er sich an die Geheimrätin. „Ich werde Sie später wieder herauf bitten lassen. Sie dürften jedoch in spätestens einer Viertelstunde entlassen werden können.“ –

Ich war mit Hiller abermals allein. Er hatte sich erhoben, kam auf mich zu und lehnte sich mir gegenüber an den Tisch, die Arme über der Brust verschränkend.

„Geben Sie jetzt zu, jener Fremde gewesen zu sein, Heiking?“ fragte er streng.

Meiner krankhaft gespannten Aufmerksamkeit entging es nicht, daß er die Anrede „Herr“ mir gegenüber bereits für überflüssig hielt. Seiner Ansicht nach war ich also schon vollkommen überführt. Aber gerade diese seine Sicherheit rüttelte nochmals meine letzte Widerstandskraft wach.

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Irrende Seelen. Leipziger Kriminalbücherverlag, Werner Dietsch Verlag, Leipzig 1919, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Irrende_Seelen.pdf/94&oldid=- (Version vom 12.12.2022)