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Der Ruf aus Tsingtau


Frau Hermine, die schöne, geistreiche, verwöhnte Gattin des Rechtsanwalts und Landwehrhauptmanns Gärtner, saß an ihrem zierlichen Schreibtisch und las mit fast feindlich blickenden Augen folgenden, monatealten Brief an ihren Mann:

„Liebster Hugo! Ich wollte tapfer sein, aber ein heute über uns hereingebrochenes Unglück schlägt alle guten Vorsätze in Scherben. Denke Dir, unser Felix soll vom Besuch der Schule ausgeschlossen werden, weil er und Hans Ostwald die Arbeitshefte früherer Tertianer zum Abschreiben ihrer Arbeiten benutzt und auch anderen Schülern geliehen haben. Ich besuchte seine Lehrer, die ihn rücksichtslos als den fahrlässigsten, zerstreutesten, pflichtvergessensten Schüler bezeichnen. Vergebens wies ich darauf hin, daß Felix ein zartbesaiteter Junge ist, mit dem man Nachsicht üben muß. Man lächelte, der Direktor machte sogar seine Witze über den Vorfall. In halb Europa, fagte er, werden alle Brücken scharf bewacht, und wir dürfen bei den Eselsbrücken Ihres Sohnes die Augen nicht zudrücken. Oh, wie ich diese Professoren verabscheue, aber wie machtlos stehe ich als Kriegersfrau ihnen gegenüber! Du opferst Dich für Deutschlands Zukunft, und derweil zerschellt unsere eigene Zukunftshoffnung, denn was soll aus Felix werden, wenn die Drohung wahrgemacht, und er von der Schule geworfen wird? Warum mußtest Du mich gerade vor einem solchen Schicksalsschlag im Stich lassen? Ich bitte Dich dringend, Urlaub zu nehmen, damit Du die Sache bei den Lehrern in Ordnung bringst.“

Empfohlene Zitierweise:
Aurel von Jüchen: Frauenleben im Weltkriege. Xenien-Verlag, Leipzig 1915, Seite 74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:J%C3%BCchenFrauenlebenImWeltkriege.pdf/76&oldid=- (Version vom 24.7.2016)