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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

sehen kann in das vergessene, alte russische Lehen; in diesen Tagen zeigt es sich mit allen seinen Reizen und wunderbaren Herrlichkeiten, mit allen seinen Entzückungen und seinem herzerfüllenden, beseeligenden Glauben. Das dankbare Andenken der Nation hat die Schicksale ihrer Väter aufbewahrt und sie in ihren Sagen lebendig mit Fleisch und Bein personificirt. Und hierin liegt der Grund, warum die russischen Räthsel und Sprichwörter, selbst wenn sie in den nationellen Sagen nicht vorkommen, dennoch nicht verloren gegangen, wie die grösseren Denkmäler verschwundener Zeiten — die Annalen, von denen keine Spur mehr zu finden.“

 Um die Dunkelstunde strömten die geladenen Gäste, einer nach dem andern, zusammen. Der Hausherr empfing sie am Thore, die Hausfrau erwartete sie an der Freitreppe, die Mädchen kamen ihnen bis in das Vorhaus entgegen. Nach langen Höflichkeitsbezeugungen, nach allen möglichen Anwünschungen und Vorwürfen wegen ihres gespreizten Stolzes brachten sie die Gäste endlich an ihre Plätze. Bei der Vertheilung derselben wurde aber wieder eine scharfe Auswahl beobachtet; wem der Hausvater und die Hausmutter besonders wohl wollten, den setzten sie oben an, um wen sie sich weniger kümmerten, mehr auf die Seite. Alte Goldjunker erhielten immer die ersten Plätze auf der rechten Seite, neben ihnen wurden häufig auch bejahrtere Frauen gesetzt. In einem reichen Hause fanden sich immer gesunde, starke und wohlbeleibte Frauen; solche Frauen bildeten den Glanzpunkt des Festes, solch eine Dame führten der Hausherr und die Hausfrau mit tiefen Verbeugungen an den Ehrenplatz. Die jungen Frauen sassen an der linken Seite, alle beobachteten ein tiefes Stillschweigen, denn ihnen war keine Unterhaltung erlaubt, als das „Fingern (pereboroczka)“, d. h. die Hände in den Schooss zu legen, sie zu falten und Finger an Finger zu pressen, und dabei den rechten Daumen um den linken, zur Abwechslung sogar auch den linken um den rechten zu drehen. Dieses galt für den höchsten Grad von „Gesetztheit“ bei einer Frau. Mutter und Schwiegermutter blickten mit süssem Lächeln nach einer solchen Tochter, Gatte und Bruder waren stolz auf solch ernste Würde, die übrigen Frauen steckten aus Neid und heimlichem Aerger die Köpfe zusammen und zischelten mit einander von fremden Dingen. Die jungen Leute, besonders „die Erwählten“ sassen in den Ecken in bestimmter Ordnung. Sie zischelten und kicherten fast ununterbrochen mit einander und unterhielten sich herrlich, obwohl mit unterdrückter Stimme (denn laut durften sie kein Wort sprechen, diess wäre ganz gegen die Sitte der Ehrfurcht gewesen); auch gingen sie von Zeit zu Zeit hinaus und holten sich Näschereien, Backwerk und dergleichen aus den Nebenzimmern, wo die Wärterinnen solche Sachen für sie immer im Vorrath hielten. So sassen und belustigten und unterhielten sich die jungen Leute ganz für sich allein, abgeschlossen von der übrigen Gesellschaft, welche dieselben fast niemals zu Gesichte bekam; und Niemand hätte es gewagt, sich in ihre Unterhaltung zu mischen, ihre Gespräche zu unterbrechen.

 Die Gäste kamen „im schweren Schmucke“ (tjażkich narjadach), im festlichen Putze. Der russische Schmuck zeichnete sich immer durch sein hohes Alterthum und die unveränderliche Gleichförmigkeit aus. Das Kleid, das für den Vater genäht worden, kam im Verlaufe der Zeit auf Sohn und Enkel. Der Mann untersuchte nicht, ob der Kaftan leicht auf der Taille sitzt, ob die Aermel lang oder kurz sind; das Kleid ward einmal lang und breit genähet, und so passte es allen, die es anzogen. Eine solche Gleichförmigkeit charakterisirte die Familie und bei sonst vermöglichen Verhältnissen galt sie für Familienwürde. Eine grosse Bibermütze, ein Zobel- oder Fuchspelz, ein Kaftan mit kupfernen oder silbernen Knöpfen, auf dem Rücken reich mit Schnüren besetzt, ein seidener persischer Gürtel oder ein solcher von rothem bucharischen Kummatsch (Baumwollenzeug) — diess zusammen bildete den festlichen Schmuck, den vollständigen Putz eines reichen Gastes. Der Frauenschmuck erlitt noch weniger Veränderungen und charakterisirte nicht allein die Familien, sondern selbst ganze Städte und Gegenden. An dem Kokoschnik oder Sbornik (ein Kopfputz, dessen schönster Theil, vorn an der

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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 111. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/122&oldid=- (Version vom 29.9.2019)