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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

Beziehung einiges Gewicht. Büreaukratie und literärisches Uebergewicht der Grossrussen lassen eine nationale Literatur in kleinrussischer Sprache trotz mancher lobenswerthen Bestrebungen in der Gegenwart nimmermehr zu Stande kommen. Die Einheit des Glaubens vermittelt die Verschmelzung beider Stämme immer mehr. Bei der gegenwärtigen russischen Politik in Bezug auf die innere Entwickelung des Staates kann die Kräftigung einer kleinrussischen Nationalität keineswegs beabsichtigt werden, ist auch kaum aus allgemein slawischem Standpunkte zu wünschen. Die russische Gesammtliteratur würde dadurch nicht nur einen grossen Wirkungskreis verlieren, sondern auch alsbald einen Zufluss sehr guter, frischer Kräfte vermissen. Eine Menge grossrussischer Schriftsteller gehört durch Geburt zum kleinrussischen Stamme. Der kleinrussische Stamm scheint vielmehr, wie der Verfasser der Broschüre S. 114 darthut, zum Vermittler zwischen Grossrussen und den übrigen Völkern des südlichen Russland bestimmt zu sein, welchem letzteren er durch die Lebendigkeit seines Charakters und sein halbnomadisches Steppeleben um ein Bedeutendes näher steht. Die Abneigung zwischen Moskowitern und Kleinrussen dürfte, je mehr und je entschiedener Russland gegen westliche Kultur und Kirche Front macht, desto eher verschwinden. Deutsche Politiker haben auf diese Abneigung ganz besonderen Werth gelegt und aus einem zukünftigen Kampfe beider Stämme die Schwächung, wo nicht gar den Fall Russlands prophezeihet; ein Blick auf die wahre Lage der Dinge lässt diese Ansicht als eine vollkommen irrige erscheinen. Die alte freie Kosakenzeit lebt nur noch in Liedern.

 Von den Weissrussen bemerkt der Verf. S. 122 sehr richtig: „Die Provincialität soll, muss und wird hier wie überall der Gesammtheit sich unterordnen.“

 Ein kurzer Ueberblick der russischen Literaturentwickelung ist vorläufig in dieser Abtheilung gegeben, die detaillirte Darstellung der nationalen Socialverhältnisse der Russen in die zweite Abtheilung verschoben.

 Der Seitenblick auf die Nowgoroder gehört unter die Episoden dieses Buches, welche füglich blos in einer Anmerkung erwähnt werden konnten, denn die Nowgoroder haben gegenwärtig weder in politischer, noch literarischer Beziehung irgend einige Bedeutung mehr. Ihr ursprünglich grossrussischer Dialect enthält einige Abweichungen; dies ihre ganze Verschiedenheit von den Grossrussen.

 Ein Rückblick auf die gewonnenen Ergebnisse dient zugleich als Uebergang zu der folgenden Hauptabtheilung, in welcher die Slawen in ihren staatlichen Verhältnissen geschildert werden sollen.

 Russland eröffnet die Discussion. Religiöse Einheit, monarchische Selbstständigkeit und nationale Entwickelung sollen die drei Ideen sein, welche die innere Politik Russlands in der Gegenwart bestimmen. Dieses vom Pentarchisten bereits ausgesprochene Programm der russischen Politik scheint durch die jüngsten Gestaltungsmomente des russischen Volksthums nicht Lügen gestraft zu werden. Die Politik Peters des Grossen ist verbraucht, seit Nikolaus ist eine nationale an ihre Stelle getreten. Dies ist ganz klar und nichts Neues.

 Diesen kurzen politischen Bemerkungen folgt eine Betrachtung der socialen Verhältnisse in Russland. Die Bauern waren bis auf Peter d. Gr. frei (?) und durften, wenn sie sich bei der Behörde gemeldet, beliebig weiter ziehen. Erst in den letzten Jahren seiner Regierung wurden sie an die Scholle unbedingt gebunden. In Kleinrussland erhob sich Widerspruch, so dass erst Katharina diese Massregel auszuführen im Stande war. Es giebt 21 Millionen Leibeigene in Russland. Das Loos der russischen Leibeigenschaft ist indess kein allzutrauriges. Eine Menge von wohlthätigen Gesetzen hindert Barbarei. Vor Allem erfreuen sich die kaiserlichen Leibeigenen einer besseren Lage. Eine eigenthümliche Bauernklasse bilden die Odnodworci. Der in sechs Klassen zerfallende freie Bürgersland geniesst einer Art Municipalverfassung; doch ist die Zahl der Bürger noch allzugering, um einigen Einfluss auf die Entwicklung des Staates zu üben. Die Darstellung des noch allmächtigen Adels zeigt zugleich, dass bei der dermaligen Einrichtung niemals ein starker intelligenter Mittelstand geschaffen werden kann, da der Adel

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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 186. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/197&oldid=- (Version vom 18.11.2019)