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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

dem Kühnen (1070—1077) gelungen, als Vermittler bis nach Kiew zu kommen und längere Zeit hindurch dort zu verweilen; der letztere vereinigte wieder mit den Polen Przemysl und besetzte die Festen Wolyn, Luck und Wladimir mit seinen Heeren, welche die westeuropäische Civilisation zum ersten Male hinbrachten, und denen kein Widerstand um so weniger entgegengesetzt wurde, da zu dieser Zeit noch kein offener Zwiespalt in der Religion zwischen dem römischen und griechischen Ritus ausgebrochen war. Boleslaw hatte schon zu dieser Zeit eine Art von Oberherrschaft über Russien erhalten, da er ausser den durch seine Heere besetzten Provinzen auch noch andere den russischen Fürsten als Lehen ertheilte. Im Norden erblüheten die republikanischen Städte Nowgorod-Wielki, Pskow, Smolensk, Polock, von denen die zwei ersten mit der Hanse in Verbindung traten. Oestlich bildete sich nach und nach die despotische Gewalt der Fürsten von Moskwa, welche die angrenzenden Fürstenthümer in sich verschlang.

 Aber im 14ten Jahrhunderte, als der schreckliche Tamerlan mit barbarischen Horden, welche ganz Europa zittern machten, Moskwa unter seine Oberherrschaft zwang, ergoss sich ein anderer barbarischer Stamm, die Lithauer, in die nördlichen und südlichen Provinzen Russiens, und brachte sie ebenfalls unter seine Herrschaft. Hier in den südlichen und westlichen Provinzen herrschte ein immerwährender Streit, wo abwechselnd Polen, Lithauer, und einestheils auch Magyaren Herren waren, und wo öfters auch Tartaren, aber nur der Beute wegen, sich zeigten. Das ganze Slawenthum zwischen dem baltischen und schwarzen Meere, welches einstens von Waregern beherrscht war, wurde jetzt in drei neben einander sich ziehenden Streifen von drei Elementen, das ist von dem polnischen, lithauischen und tartarisch-moskowitischen beherrscht. Polen hatte die Mission der politischen Freiheit, welche sich immer mehr entwickelte und in das Volk hineindrang; die Fürsten von Moskwa unter tartarischer Obhut wurden immer mehr despotischer, und brachten auch die republikanischen Städte unter ihr eisernes Scepter. Die Herrschaft der Lithauer schwankte zwischen diesen, bis sie mit der Annahme des Christenthums sich sammt allen Besitzungen mit Polen vereinigten. Von dieser Zeit an war die Benennung Russien beinahe verschwunden, da es bestimmt war, mit Polen zusammen einen Staat zu bilden; es erhielt so wie Polen die Eintheilung in Wojewodschaften; die Beschlüsse von Horodlo (1413) versicherten den Einwohnern aller Provinzen Polens gleiche Rechte, sie bestanden gleiche Schicksale und dienten der europäischen Civilisation als Vormauer gegen die barbarischen Horden Asiens und den Despotismus der moskowitischen Fürsten; die Verfassung, durch die sie regiert wurden, entwickelte in ihnen den polnischen Sinn, und nur der Fanatismus der Jesuiten, welcher vom 17ten Jahrhunderte die griechische Religion in Russien zu vertilgen anfing, rief den Zwiespalt hervor.

 Wenn zur Bezeichnung einer Nationalität der Sprachdialekt dienen soll, so muss die Geschichte einer Nation auch die Geschichte seiner Sprache sein. Die Sprache in Russien unterlag mehreren Modificationen. Es war nur der sogenannte weissrussische Dialekt zur Schriftsprache in Polen auf einige Zeit erhoben. Die polnische Sprache, in welcher die Gesetze geschrieben waren und welche nicht nur der Adel aller Provinzen, sondern alles, was nur irgend ein Recht auf die Bildung sich anmaassen wollte, ausschliesslich sprach, dann mehrere Colonien, welche aus Polen in Lithauen, Wolynien, Podolien und der Ukraine angesiedelt waren, gaben der russinischen Sprache einen eigenthümlichen Anstrich, welcher sie der polnischen am meisten nähert. Zur Zeit Peters des Grossen wurde in seinem Reiche mit drei Dialekten gesprochen; in den südlichen Provinzen war der kleinrussische Dialekt, in den westlichen der weissrussische, dann in den nördlichen (finisch-moskowitischen) Provinzen der grossrussische Dialekt; die beiden ersten hatten sich, wie schon gesagt, an dem polnischen gebildet, und der letzte wurde erst durch einen Ukas Peters des Grossen (welcher für ihn ein eigenes Alphabet schuf) zur Amtssprache erhoben; im J. 1705 wurde die russische Zeitung zum ersten Male in dieser Sprache gedruckt. So nahmen diese Dialekte

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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 194. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/205&oldid=- (Version vom 27.11.2019)