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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

seiner Literaturen.“ Dieses sei der Wunsch der slawischen Nation, und diesen habe die französische Regierung zuerst erfüllt. Die geographische Ausdehnung und die Zahlenmenge der Slawen machen die Ausführung sehr schwierig. „Siebzig Millionen Menschen sprechen in den Mundarten dieser Sprache, in Ländern, welche die Hälfte von Europa und den dritten Theil von Asien einnehmen.“ Die Sprache der Slawen „zeigt sich in verschiedenen Formen und Stufen ihrer Veredelung. Wir sehen sie als eine abgestorbene, religiöse im Altslawischen; als die Sprache der Gesetzgebung und der Befehle für jetzt im Russischen; als die Sprache der Literatur und des Umganges im Polnischen; als die der Wissenschaft im Czechischen; geblieben im Urzustande als Sprache der Dichtung und Musik bei den Illyriern, Montenegrinern und Bosniaken.“ — „Wir sehen daher verschiedene Funktionen, verschiedene Bestimmungen, erfüllt durch alte und neue Sprachen, z. B. durch die sanskritische, arabisch-türkische, persische, hier vertheilt zwischen die Mundarten einer Sprache.“ Die früheren Thaten der Slawen, der Einfluss, den sie auf Europa ausgeübt haben und noch ausüben werden, das Bewusstsein, dass sie zu etwas Grossen bestimmt seien, macht Westeuropa die Kunde des Slawenthums nothwendig und nutzbringend. — (2) Auch für den Publicisten ist die Kenntniss des Slawenthums wichtig. „Mehrere Ideen, heisst es S. 14, welche bei ihnen erst als verstandesmässige (theoretische) Auffassungen sich noch nicht bis zu den allerletzten logischen Folgerungen entwickelt haben, geben durch ihre Ausführung bei den Slawen die Ansicht von ihrer praktischen Wirklichkeit. Würde eine aufmerksame Beobachtung die von den Slawen so eifrig aufgegriffenen Theorien des Westens, und das praktische, dem Westen so gänzlich unbekannte Leben der slawischen Völker vereinigen, so würde dieses der Menschheit viele vergebliche und schmerzliche Reformversuche vielleicht ersparen.“ Zwei heterogene Momente hinderten lange Zeit die Entwickelung der Slawen: das Mongolenthum, dem Russland unterlag, und der Islam, welchem Polen widerstand. Der Widerstand gegen diese beiden drückte der slawischen „Literatur einen eigenthümlichen Stempel auf (S. 22). In diesem langen und erbitterten Kampfe haben die slawischen Völker ihre Volksthümlichkeit ausgebildet, ihren Genius entwickelt; durch ihn traten sie in die Reihe der europäischen Völker.“ Die anfängliche russinische Literatur ist „religiös, mehr jedoch monarchisch.“ Die Poesie „eilt zum Epos.“ Zur Zeit Katharina’s wurde die Literatur „autokratisch.“ Der Islam rief in Polen, auf dem er so schwer lastete, eine entgegengesetzte Thätigkeit hervor: „der Patriotismus, die Vaterlandsliebe ist das zeugende Dogma der ganzen Bildung des Geistes und des Gemüthes der Polen; ihre ganze Literatur erwuchs, entfaltete sich und erblühte aus diesem einzigen Worte Ojczyzna (Vaterland); sie ist die verschiedene Deutung und Anwendung dieser Idee.“ Damit war die republikanische Verfassung zugleich gegeben. „Aus allem diesen lässt sich leicht begreifen, dass die polnische Poesie ihrem Wesen nach keine Elemente des Epos darbietet, sich aber dem Drama und noch mehr der lyrischen Gefühlsweise zuneigt.“ In Südrussland, der Ukraine, „dieser grossen Ader, welche Europa mit der Fläche von Mittelasien verbindet“, entwickelte sich die ukrainische Poesie. (3) In den Süddonauländern entfaltete sich zuerst eine slawische geistige Cultur; allein die asiatischen Horden, die Religionskämpfe und die politischen Umwälzungen vernichteten bald die Frucht derselben. Der Rest von allen dem ist die serbische Volkspoesie. Böhmens Hauptbestimmung ist, die Wissenschaft der Slawen zu vertreten. „Die bergigen Länder der Illyrier und Serben entsprechen in vieler Hinsicht dem spanischen Catalonien und Asturien. — Polens Schicksal war lange Zeit ähnlich dem Frankreichs. — Endlich spielen die Czechen und Russen Deutschland etwas in’s Handwerk; man könnte sie die slawischen Deutschen nennen. — Der Czeche stellt unter allen Slawen am meisten den deutschen Geist vor. — Anderseits scheint Russland an England, dieses modificirte Germanien, zu erinnern (beiden ward ja der Geist der Normanen eingeimpft).“ (S. 40.41.) — (5) Nach diesen Vorbereitungen theilt Mickiewicz den Gang seiner Vorträge so ein: 1. „Allgemeine

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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 198. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/209&oldid=- (Version vom 1.12.2019)