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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

 4. Slawische Balalajka. Von W. v. Waldbrühl. Leipzig 1843, Hirschfeld.

 Der durch seine trefflichen Uebersetzungen aus dem Slawischen bekannte Verf. veröffentlicht hier eine neue Sammlung von Früchten seiner poetischen Muse, welche uns desto angenehmer ist, je weniger glücklich bisher das Feld bebauet wurde, auf welchem er seine reizvollen Früchte sammelt. Sein Buch enthält nämlich eine reiche Sammlung der schönsten und besten grossrussischen, russinischen und polnischen Volkslieder (an 300 Lieder), und wenn ihm auch nur die Sammlungen von Kaseljnin Maksimowicz, W. Z. Oleska und Wojcicki zu Gebote standen, so hat er dennoch des Schönen und Trefflichen so viel ausgelegt, dass man füglicher Weise selbst bei grössern Mitteln nicht viel Besseres beanspruchen konnte. Ueber den Werth des Volksliedes im Allgemeinen ist man gegenwärtig so ziemlich einig; die Wichtigkeit der slawischen Nationalpoesie jedoch ist um so grösser, jemehr sie der vollständige und bis jetzt genaueste Ausdruck des slawischen Nationalgeistes ist. Sie stellt sich immer mehr heraus und wird von Tage zu Tage in gleichem Maasse grösser, als die Lieder bekannter und die Sammlung derselben vollständiger wird. In der neuesten Zeit ist in diesem Felde von Seiten der slawischen Schriftsteller und Gelehrten ungemein viel gethan worden. Wir übergehen die Aufzählung des Einzelnen und verweisen auf den Artikel Schafarik’s über diesen Gegenstand, den wir später beibringen. Das Volkslied hat bei den Slawen deshalb eine so ausserordentliche Vorliebe und so vielfache Bearbeitung gefunden, weil es einzig und allein das gesammte geistige Leben des Volkes ausmacht. In jeder Angelegenheit des Lebens, bei Freud’ und Leid, bei Fest und Trauer, bei volksthümlichen Gebräuchen, wie bei den innigsten und zartesten Regungen des Gefühls erbebt eine tiefe Saite im Herzen des Slawen, und seine geheimsten Empfindungen ergiessen sich in einem Liede, deren er zu Hunderten auswendig weiss und singt, deren es Tausende giebt, um die feinsten Schattirungen des Gemütszustandes entsprechend zu bezeichnen. Nehmen wir nur z. B. die Tanzlieder. Wie unzählige besitzt ein jeder der slawischen Dialekte. Bei manchen Völkerschaften kann fast jedes Lied zu einem Tanzliede verwendet werden, wie z. B. bei den Russen; bei andern sind deren Tausende vorhanden und werden jeden Tanz- und Festtagsabend um Hunderte vermehrt, wie z. B. bei den Polen. Mit Recht sagt daher der Verf. in der Vorrede S. VIII.: „In der ukrainischen, wie in der polnischen Abtheilung finden sich Unterabtheilungen, die „Tanzlieder“ überschrieben sind; in der russischen fehlt diese Ueberschrift, nicht weil die Russen nie das Lied zur Tanzbegleitung gebrauchten, sondern weil ihr Tanz in seiner gemässigten geistvollen Bewegung fast jede Weise im graden Takte benutzen mag, und so beinahe auch jedes Lied getanzt werden kann, wie denn der Gesang gewiss vor allen andern Tonzeugen bei allen Völkern zuerst dem Spiele der Glieder beim Wechsel des Ebenmaasses als Mutter vorgeschwebt hat. Die Kosaken haben aber schon eigene Gesänge und Weisen zu ihren bewegtern Tänzen, welche sie Schäumer, Brauselieder, Tanzbrauser (Schunkki) nennen, und die in Wort und Weise sich wenig von den polnisch-krakauischen Tanzliedern unterscheiden.“

 Die Polen sind an Liedern dieser Art, wie an Tänzen, wohl die reichsten; indem sie drei verschiedene Tanzweisen und Tänze besitzen, die sich als solche recht wohl von einander unterscheiden lassen. Zuerst der polnische Adeltanz (die sogenannte Polonaise), im ehrbar prächtigen Dreivierteltakte, der in den Worten ein Sagenlied oder eine Liebesklage behandelt; dann der Masurentanz (die Marsurka), im raschen Dreivierteltakte (oder drei Achtel), der durch die deutsche verzwickt klingende Betonung des zweiten Viertels (oder wenn man will Achtels) schon in den graden Takt hinüberspielt und uns ganz den ungestümen feurigen Polen versinnlicht, wie auch die Worte recht passend irgend ein übermüthig scherzendes Liebeslied hinwerfen. Dieser ist der Lieblingstanz aller Gaue und Stände. Zuletzt der krakauer Tanz, der gemeinste, im hüpfenden Zweivierteltakte. Zu

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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 204. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/215&oldid=- (Version vom 7.12.2019)