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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

haben sie die ihnen von Niemandem streitig gemachte Stellung inmitten der slawischen Völker eingenommen. Zurückgeführt zur Tiefe ihres Wesens, haben sie sich auf die Vergangenheit gestützt, treten aus ihr heraus, und aus derselben wollen sie das gemeinschaftliche Band für alle Slawen hervorholen. Die czechischen Gelehrten ähneln nicht im mindesten den Alterthumssammlern anderer Länder; von einem heiligen Feuer werden sie geleitet zur rastlosen Arbeit, wie etwa die Mönche des Mittelalters, welche den Glauben, diese aber Volksthum predigen und mit geduldigem, zugleich poetischem Geiste nachforschende Unternehmungen ausführen, wobei sie häufig Armuth und Elend ertragen müssen. — Sie schreiben in allen Sprachen, benutzen alle möglichen Mittel zur Erreichung ihres Zieles. Aus der Leuchte der ganzen Civilisation Vortheil ziehend, bemühen sie sich, das Slawenthum vor dem ganzen civilisirten Europa zu enthüllen; wiederum die Slawen gegen einanderstellend, wollen sie dieselben unter einander bekannt machen und Friede stiften; im Zwiste der feindlichen Literatur stehen sie da als unpartheische Richter, zuvorkommende Vermittler. Die russischen Literaten haben immer die polnischen, diese wiederum die russischen im Verdacht; mit gleichem Vertrauen jedoch nähert sich der Russe wie der Pole dem fleissigen, gewissenhaften Czechen; was besonders diese Gelehrten auszeichnet, das ist ihre hohe Unpartheilichkeit. — Sie haben diesen dauernden Grundsatz, die Wissenschaft über zeitliche Fragen zu erheben, die Geschichte unter der Oberfläche der politischen Umstände zu erforschen. Die verbrüderten Völker an die ursprüngliche Gemeinschaft des Stammes und der Sprache, der Apostel und der Kirche erinnernd, rufen sie dieselben fortwährend zur Einheit auf, ja sie möchten in einem Glanze des Ruhmes die Rückerinnerungen ihrer gegenseitigen Kämpfe ersticken. Und wenn es ihnen nicht gelingt, das erwünschte Ziel zu erreichen, so rührt dieses vielleicht daher, dass sie noch nicht gänzlich von den ererbten Vorurtheilen der Väter sich frei gemacht, dass sie gar zu viel auf eine oberflächliche, stammliche Volksthümlichkeit gaben, den Geist aber, welcher die Civilisation der verschiedenen Völker belebt und entwickelt, zu wenig schätzen; dies sei jedoch, wie es wolle, immer werden die Czechen als die Patriarchen der slawischen Wissenschaften gelten. Sie liefern nicht nur volksthümliche Dichter und Rechtsgelehrte, sondern man kann sagen, es ist dieses ein ganzes Volk von Forschern und Philologen.

3. Die russische Literatur im Jahre 1842.

 Russlands sociales Leben concentrirt sich bis diesen Augenblik noch in seiner Literatur; die Journalistik hat daher eine Macht in den Händen, deren Gewicht allgemein anerkannt wird. Die Kritik ist eines der wichtigsten Momente bei einer so rasch sich entwickelnden Literatur. Und dennoch ist gerade sie noch in einem sehr unvollkommenen Zustande; denn je bedeutender sie ist, desto mehr ist sie und wird sie missbraucht. Die Kritik dient hier nicht als Erforschung der Wahrheit, Leitung auf den rechten Weg, Verbesserung u. s. w.; sie ist eine Waffe, mit der man den Gegner niederzumachen sucht. Und in dieser Hinsicht hat Russland bereits einen grossen Sprung über Deutschland hinweg gemacht, es ist Frankreich näher getreten. Ob zum Vortheile der Wahrheit, wollen wir eben nicht behaupten; zu seinem eigenen Nutzen indess jedenfalls. Höchst wichtig sind in der Kritik die jährlichen Uebersichten; sie geben gleichsam Rechenschaft von dem, was die Nation in dem verflossenen Zeitraume geleistet hat, und lassen leicht finden, was sie zu ihrer ferneren Entwickelung bedarf. In Russland sind nun diese Uebersichten von grösstem Interesse; denn „у насъ что год, То и эпоха“: jedes Jahr gibt eine Epoche (in der Literatur wie in jeder Entwickelung überhaupt). Hier begann sie vor Allen Marlinski-Bestużew, dessen „Uebersicht der russischen Literatur“ durch die Schärfe der Auffassung und Lebendigkeit der Darstellung eben so sehr als durch die Neuheit ein ungemeines Aufsehen erregte. Nach Marlinski

Empfohlene Zitierweise:
J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 227. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/238&oldid=- (Version vom 2.1.2020)