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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

übernahm ein Herr Orest Somow das Amt eines Reviewers; seine jährlichen Uebersichten waren so ohne allen ästhetischen Scharfblick und die Darstellung des Erschienenen so langweilig und geistlos, dass man sich am Ende allgemein lächerlich über dieselben machte. Nach ihm schrieb Kirjejewski seine Uebersicht der Literatur des Jahres 1829 in dem „Morgensterne“ von Maksimowicz. Die ausserordentlichen Lobeserhebungen, welche er einzelnen Erscheinungen zollte, das Paradoxe in vielen seiner Behauptungen erregte einen allgemeinen Aufstand in der literarischen Welt, und alle Journale fielen damals über den Artikel her. Der grösste Mangel aller dieser Uebersichten bestand darin, dass man jedes einzelne Gedicht, jede an sich gute, aber weniger mächtige Erscheinung für ein wichtiges Moment in der Entwickelung der Literatur nahm, dass man alles und jedes geistige Produkt in der Uebersicht besprach, das nur einigermaassen Aufsehen erregt hatte. Es war diess die Zeit, wo der Romantismus sich anfing Bahn zu brechen. Da galt Alles für wichtig und wurde mit Begeisterung aufgenommen, was dieser Richtung nur einigermaassen Vorschub leistete. Der „Telegraph von Moskwa“ stand damals in seiner ganzen Blüthe. Der Romantismus warf sich mit Marlinski auf die Prosa (1829) und daran ging er zu Grunde. Die Jahre 1835 und 36 waren Epochen in der russischen Literatur; Gogol trat auf; der Anschluss der Dichtung an das wirkliche Leben, ihre männliche Reife trat ein; Benediktow schrieb die letzten Gedichte; die ideale Poesie verschwand und die reale (wir möchten sagen das Prosaische darstellende) Poesie trat an ihre Stelle. Das Ideal erhielt jetzt erst seine volle luftige Bedeutung, aber ward aus der Literatur so ziemlich verbannt. Der Charakter der gegenwärtigen russischen Literatur ist real, ohne materiell zu sein. Und von diesem Gesichtspunkt aus ist das Jahr 1842 eines der wichtigsten in der russischen Literatur.

 Die „Todten Seelen“ haben in der russischen Literatur ein ungemeines Aufsehen erregt; die Einen haben es mit den Füssen getreten, die Andern es Shakespeare und Homer an die Seite gesetzt. Die Wirkung dieses Romans ist ungemein; sie war um so grösser, je plötzlicher, je überraschender sie kam. „Eine ganz neue Sphäre der Dichtung, ein eigenthümlicher Charakter der Künste, welchem gegenüber die idealen und gefühlvollen Schöpfungen unserer Dichter sich als harmloses Geschwätz von Knaben, als unschuldige Träumereien von Kindern darstellen“: so bezeichnen russische Kritiker die Erscheinung der „Todten Seelen“, und ein neues Stadium der russischen Literatur ist somit angetreten. Eigenthümlich ist bei dem Streite, der in Folge des Werkes Gogols sich in den Journalen entspann, dass man dem Verf. grammatikalische Fehler vorhielt. Karamzin wurde bereits dieser Vorwurf gemacht, Puschkin musste ihn ebenfalls erdulden. Damals kamen Fehler vor, weil die Sprache selbst noch nicht gänzlich sich ausgebildet hatte; es war kein vollkommenes Gesetz vorhanden, die fremden Elemente noch nicht vollständig von dem russisch-slawischen Grundstoffe der Sprache überwältigt. Dass man Gogol denselben Vorwurf macht, scheint zu beweisen, dass die organische Durchbildung des russischen Dialektes auch jetzt noch nicht vollendet ist.

 An Gedichten ist die Literatur des Jahres 1842 nicht allzu reich. Eine vollständige Sammlung der Gedichte Lermontow’s erschien zu Ende dieses Jahres, und obgleich dieselbe viel Neues bot, so war dieses doch weniger hervorragend, weniger trefflich als das schon Bekannte; die Pietät für den zu früh Verstorbenen hat den meisten Antheil an der sonst wenig wünschenswerthen, selbst für den Dichter nicht erwünschten Vollständigkeit, in der man seine Geistesprodukte herausgiebt. Weniger werthvoll, wenn auch für sich eine schöne Gabe des vergangenen Jahres, sind die Gedichte von Majkow über die wir im vorigen Hefte berichteten. Durch den in ihnen herrschenden fremden Geist sind sie nicht im Stande, der Literatur, deren Haupttendenz gegenwärtig das rein Nationale ist, einen Fortschritt zu geben. Dasselbe gilt von dem Bändchen der Gedichte Baratynski’s, welche „Dämmerung“ betitelt sind und die der Verf. selbst als

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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 228. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/239&oldid=- (Version vom 3.1.2020)