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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

Sprach- und Geistesverwandten, die vielleicht in weit günstigeren Verhältnissen sind, als wir waren, zum Gedeihen des geistigen Nationallebens hervorzurufen.[1] Ferne sei es von uns, uns hier als Muster aufstellen zu wollen; wir alle sind gleiche Diener der hohen, göttlichen Gedanken, welche die Menschheit durch die Zeiten bewegen. Unser grösster Lohn wird sein, wenn wir durch unser Beispiel die Einsicht gefördert haben, dass die Zeit vorüber sei, nach abstrakten Begriffen des Humanismus, des Staatsmechanismus die Völker modeln zu wollen, dass die alte Encyclopädistenschule auch hier, wenn auch spät, ihre Endschaft erreicht hat, und dass der schöne Enthusiasmus für das Wohl der Menschheit aus seiner vagen Allgemeinheit herabsteigen und sich in den Enthusiasmus für die geistige Bildung des Volkes, für das wir geboren sind, umwandeln soll; denn dies ist die klare Aufgabe unseres Zeitalters.

J. P.

V.
Literatur und Kritik.
I. Kurse Skizze der Geschichte der russischen Literatur.
(Nach den Otecz. Zapiski 1843.)

 Die russische Literatur ist zwar ein Gewächs von dieser Erde, aber ein überpflanztes. Dieser Umstand giebt ihrer Geschichte und ihr selber einen eigenthümlichen Charakter; denselben nicht zu verstehen oder auf ihn nicht die ganze Aufmerksamkeit zu verwenden, hiesse die russische Literatur nicht verstehen, noch ihre Geschichte. Einige Gewächse bewahren, wenn sie in ein anderes Klima und in einen neuen Boden verpflanzt werden, ihre frühere Form und ihre früheren Eigenschaften; andere verändern sich in Massgabe des Einflusses des neuen Klimas und der frischen Erde in dem Einen und in dem Andern. Die russische Literatur kann vielleicht mit den Gewächsen der zweiten Art verglichen werden. Die Geschichte derselben, besonders bis zu den Zeiten Puschkins (und zum Theil auch noch bis auf die Gegenwart), besteht in einer fortwährenden heftigen Kraftanstrengung, sich von den Wirkungen der künstlichen Ueberpflanzung loszumachen, Wurzel zu fassen in dem neuen Boden und sich zu kräftigen durch ihre ernährenden Säfte. Die Idee der Poesie wurde für Russland auf der Post aus Europa verschrieben und erschien daselbst wie ein überseeischer Einfuhrartikel. Man fasste sie als die Kunst auf, zu verschiedenen feierlichen Gelegenheiten Verse zu komponiren. Tredjakowski war der privilegirte Hofpoet und „besang“ bereits die Bälle und Maskeraden am Hofe wie Staatsereignisse. Lomonosow, der erste russische Dichter, fasste die Poesie ebenfalls als das „Besingen“ feierlicher Ereignisse auf, und seine erste Ode (welche zugleich auch das erste russische Gedicht in regelmässigem Metrum war) war ein Lied auf die Einnahme Chotims durch die russischen Krieger. Dies war im Jahre 1739, also vor 104 Jahren. Uebrigens wurde diese Ansicht der Poesie nicht vor den russischen Dichtern zuerst gegründet; mit diesen Augen sah man damals die Poesie in dem ganzen gebildeten Europa an. Allgemeine Berühmtheit genossen damals


  1. Sie haben es gethan bei der Matica serbska in Pesth und bei der illyrischen Gesellschaft in Agram.
Empfohlene Zitierweise:
J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 265. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/276&oldid=- (Version vom 21.11.2019)