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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

nähert sich bereits der Karamzin’s, obgleich sie noch deren Frische nicht erreicht. Am wichtigsten indess sind für uns die beiden Lustspiele Von-Wisin’s: „der Unmündige“ (Njedorosl) und „der Brigadier.“ Keines von den beiden Lustspielen kann man eigentlich Komödie in der ästhetischen Bedeutung dieses Wortes nennen, sie sind vielmehr eine Art von Anstrengung der Satyre, sich zum Lustspiel emporzuheben; und gerade dadurch werden sie wichtig. Wir sehen in ihnen den lebendigen Augenblick der Entwickelung der einmal nach Russland verpflanzten Idee der Poesie; wir sehen Schritt vor Schritt ihr Vorwärtsstreben, das Leben, die Wirklichkeit auszudrücken. In dieser Beziehung sind uns selbst die Mängel der beiden Lustspiele werth, als Fakten des damaligen socialen Zustandes. In ihren Raisonneurs und ihren Tugendhelden hören wir die Stimmen der Weisen und der Guten jener Zeit, ihre Begriffe und Gedanken, geschaffen und geleitet von der Höhe des Thrones herab.

 Chemnicer, Bogdanowicz und Kapnist gehören bereits zur zweiten Periode der russischen Literatur; ihre Sprache ist reiner und der rhetorische Pedantismus weniger bemerklich, als bei den Schriftstellern aus Lomonosow’s Schule. Chemnicer ist in der Literargeschichte wichtiger, als die anderen beiden; er war der erste russische Fabeldichter (denn die Allegorien Sumarokow’s verdienen kaum eine Erwähnung), und unter seinen Fabeln gibt es einige, die wahrhaft schön sind in Hinsicht der Sprache des Verf. und ihres naiven Witzes. Bogdanowicz machte Furore durch seine „Duschenka“ (Seelchen). Seine Zeitgenossen waren ausser sich über dieselbe.

 Die entzückte Bewunderung Bogdanowicz’s dauerte lange; selbst Puschkin redete ihn zu wiederholten Malen mit Liebe und hinreissender Zuneigung in seinen Gedichten an. Und trotz dem hat dieses Gedicht für uns in der Gegenwart fast gar keinen poetischen Reiz mehr. Die Verse, ausserordentlich glatt und leicht für jene Zeit, sind jetzt schleppend und ohne Wohlklang; die Naivität der Erzählung und die Zartheit des Gefühls erscheinen uns gezwungen, der Inhalt kindisch und nichtig. In diesem Gedichte finden wir in seinem Inhalte wie in der Form auch nicht einen Schatten von poetischem Mythos und von plastischer, hellenischer Schönheit. Was war wohl die Ursache der Entzückung zu jener Zeit? Nichts anderes, als die für jene Zeit ausserordentliche Leichtigkeit des Verses und die Abwechslung des Metrums, das Wegwerfen des gedehnten und hochtrabend feierlichen Tones, der bereits anfing, die Leser anzuekeln und dabei noch die bezaubernde Ueppigkeit der Gemälde, welche der scherzhaften Dichtungsweise gesetzlich erlaubt war und die Phantasie und das Gefühl der Leser überlistete.

 Kapnist schrieb Oden, unter denen sich einige durch ihren elegischen Ton auszeichneten; sein Vers hatte eine damals ungewöhnliche Leichtigkeit und Glätte. In seinen elegischen Oden hört man Seele und Herz. Aber damit enden auch alle Vorzüge seiner Gedichte. Oft missbrauchte er seinen Kummer und seine Thränen, denn er grämte sich und weinte in einer und derselben Ode oft einige Seiten lang. Kapnist ist auch noch merkwürdig als Verfasser des Lustspiels Jawel. Dieses in poetischer Hinsicht bedeutungslose Geistesprodukt gehört zu den historisch wichtigen Erscheinungen in der Literatur; denn es ist ein kühner und entschiedener Ausfall der Satyre gegen die Advokatenränke, gegen Zungendrescherei und Wucher, welche die menschliche Gesellschaft in jener Zeit so furchtbar marterten.

 Wir nähern uns nun einer der interessantesten Epochen der russischen Literatur. Die Saat Katharina’s II. begann zu keimen und Früchte zu tragen. Je fester die Civilisation und die Aufklärung in Russland Wurzel fassten, desto mehr begann auch die literarische Bildung sich auszubreiten. In Folge dessen wurde auch die Erscheinung von klassischen Talenten, welche auf den Gang und die Richtung der Literatur einwirkten, immer häufiger und gewöhnlicher, als

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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 346. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/357&oldid=- (Version vom 9.4.2020)