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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

Europa auf ewig von ihr Abschied nahm. Dieses Zusammentreffen war nothwendig und nützlich für die russische Literatur und für die Sitten der russischen Gesellschaft. In Europa verwandelte die Sentimentalität die feudale Rohheit der Sitten; in Russland musste sie die Ueberreste derselben Rohheit von Peters des Grossen Zeiten her verwandeln. Dies wird begreiflich in einem Lande, in welchem nicht blos die Aufklärung und Literatur, sondern auch der Gemeinsinn und die Liebe neu waren. Die Sentimentalität drückte als Reizkraft der groben Nerven, welche durch Bildung weicher und feiner werden, an sich schon den Moment der ersten Empfindung in der russischen Literatur aus, welche bis auf diesen Augenblick den Charakter der Büchergelehrsamkeit an sich trug. Uns sind jetzt die romantischen Namen lächerlich, aber damals hatten sie eine tiefe Bedeutung; in ihnen drückte sich die menschliche Neigung zum romantischen Träumen, zu dem Leben in und mit dem Herzen aus. In der Person Karamzin’s erfreute sich die russische Gesellschaft zum ersten Male der Erkenntniss, dass sie selbst Seele und Herz besitzt, die zarterer Gefühle fähig sind. Man nannte das damals: sich am Gefühle ergötzen, gefühlvoll sein. Wer bei dem Liede Dmitriew’s: „Стонѣтъ сизыи Голубочикъ“ vom Herzen weinen konnte, der hatte die Poesie besser begriffen, als jener, der sie nur in den feierlichen Oden fand. Die Poesie der vorangegangenen Schule setzte die Frauen in Furcht; aber die Verse eines Dmitriew, Karamzin und Neledinski-Melecki wussten die Frauen auswendig und ganze Geschlechter wurden mit ihnen erzogen. Karamzin hat jeder Mensch gelesen, der Anspruch auf Bildung macht; die meisten vermochte nur Karamzin zum Lesen zu bewegen und diese Beschäftigung als eine angenehme und nützliche liebzugewinnen.

 In demselben Jahre wie Karamzin, 1765, wurde Makarow geboren, ein Mann, dem es bestimmt war, in der russischen Literatur die Rolle eines Mitgestirns Karamzin’s zu spielen, obgleich sie einander sogar unbekannt waren. Im Jahre 1803 gab Makarow ein Journal: „Московскій меркури, der Moskwaer Merkur“ heraus, dessen Artikel dieselbe Sprache und dieselbe Richtung einschlugen, wie die Karamzin’s. Makarow hatte Geschmack, hatte Talent, war in Europa herumgereist und gehörte zu den gebildetsten und verständigsten Menschen seiner Zeit. Man vergleiche Makarow’s Kritik über Dmitriew mit der Karamzin’s über Bogdanowicz’s „Душенка“: beide scheinen von einem und demselben Menschen verfasst zu sein, Makarow vertheidigte Karamzin gegen den in jener Zeit berühmten fanatischen Purismus. Makarow trat zuerst 1795 mit einer herrlichen Uebersetzung des an sich mittelmässigen Romans: „Der Graf von St. Merane oder neue Verirrungen des Verstandes und Herzens“ auf. Er übersetzte auch die beiden ersten Theile von Anthenor’s Reisen in Griechenland und Asien von Blandie, welche 1802 erschienen. Leider starb dieser wichtige Mann bereits 1804.

 Kapnist gehört wegen des Einflusses Karamzin’s auf ihn zu den Schriftstellern der Karamzin’schen Schule, in welcher auch Podschiwalow und Benicki, zwei gute Prosaiker, sich auszeichnen; dann Neledinski-Melecki, bekannt durch seine zarten Lieder, reich an wahrem Gefühl; ferner Dolgoruki, der seine Gedichte unter dem sentimentalen Titel; „Zustände meines Herzens“ herausgab, voll Gefühl, aber satyrisch, nicht selten ausgezeichnet durch echt russischen Humor; weiter Milonow, ein ausgezeichneter Satyriker[WS 1]; Wojejkow, ein Dichter, der Virgil’s Eklogen, Delille’s beschreibende Gedichte übersetzte, unsterblich geworden durch sein bisher handschriftlich verbliebenes Gedicht, später als Journalist ausgezeichnet und berühmt durch scharfe Polemik; Kokoschkin und Chmjelnicki, Uebersetzer und Nachahmer Molière’s; endlich Wasili Puschkin, der Dichter Wladimir Ismajlow, der Prosaiker.

 Ozerow und Krylow erscheinen als selbstständige Schriftsteller in der Kazamzin’schen Literaturperiode; obgleich auch sie gewissermassen zur Schule des Reformators der russischen Sprache gehören. Nach Sumarokow erhob sich

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Druckfehler. Satyker in der Vorlage.
Empfohlene Zitierweise:
J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 349. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/360&oldid=- (Version vom 12.4.2020)