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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

um das Vaterland und die Literatur gar grosse Verdienste hat. Und Polewoj ist ein solcher Mann, und die Geschichte der Aufklärung Russlands wird ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen trotz allen journalistischen Anfeindungen und kleinlichen Umtrieben.

 Ueber Polewoj steht nun in Hinsicht der Fruchtbarkeit noch Herr Kukolnik; wir werden von seinen Leistungen in einem der folgenden Hefte ausführlicher sprechen.

 Ein anderer in der russischen Bühnenwelt ebenfalls sehr gefeierter Name ist der Karatygins; er ist Schauspieler und dramatischer Schriftsteller zugleich, und hat sich in beiden Eigenschaften vielen Ruhm und manches bleibende Verdienst erworben. Seine Stücke, fast ausschliesslich Vauxdevilles, theils aus dem Französischen bearbeitet, theils Original, zeichnen sich durch Bühnengerechtheit sowie durch theatralischen Effect aus. Besonders schön sind darin die Couplets, die wegen ihrer feinen Anspielungen auf gegenwärtige Verhältnisse und wirkliche Fakta sich immer einer ungemein günstigen Aufnahme erfreuen und in Kurzem von allen Besuchern des Alexandertheaters auswendig gesungen werden. — Aber noch ausgezeichneter ist Karatygin als Schauspieler. Die Feinheit und Grazie seines Spiels, die Bonhomie, der unwiderstehliche Ausdruck des Komischen in seiner ganzen Erscheinung, die glückliche Gabe, in treffenden Momenten über seine Rolle hinauszugehen und mit einem leisen Schlage Dinge zu berühren, die sonst immer unerwähnt bleiben: Alles das macht ihn zum ersten Schauspieler der Petersburger Bühne. Ihm zunächst steht Martynow, eines jener glücklichen Talente, das in kurzer Zeit die volle Gunst des Alexander-Publikums sich erwarb und sich nun nicht wieder aus derselben verdrängen lässt. Er und Karatygin entscheiden in der Regel über den Fall oder den Succes eines neuen Stückes. Ist es ihnen beiden anempfohlen, liegt es in ihrer beider Vortheil, dasselbe auf der Bühne zu halten; dann wird es gewiss gefallen und noch oft das Haus füllen. Ihre Gunst ist die Richterin über Tod und Leben. — Diese beiden sind aber auch die einzigen erwähnungswerthen Erscheinungen auf dem Alexandertheater; die Männer sind zum grössten Theil sehr Mittelsorte, und unter den Frauen ragt keine besondere Erscheinung hervor, welche die Aufmerksamkeit des Zusehers länger zu fesseln im Stande wäre. Der Grund davon liegt in den Verhältnissen Russlands. Nur selten meldet sich Jemand für die Bühne, und von diesen Seltenen ist immer wieder nur erst Einer und der Andere, welcher durch eine bessere Erziehung befähigt ist, mit Glück und Erfolg auf die Bretter zu treten. Denn wer in Russland etwas Tüchtiges gelernt hat, kommt immer noch in andern Branchen des Lebens fort; vor Allem bedarf der Staat eine Masse von Beamten, an welche man oft nicht grosse Ansprüche machen darf, da höher Gebildete bereits auch höhere Stellen beanspruchen und erringen; und der „Dienst“ gilt allgemein für die ehrenvollste Stellung in der Welt, und ein „Beamter“ ist ein grosser Herr. Ausser dem Staate verschlingen auch die immer neu sich erhebenden Fabriken alljährlich eine Menge der fähigsten Köpfe. Was nun noch übrig bleibt, gehört dann zu dem grossen Haufen derer, welchen jede bessere Erziehung, ja oft auch selbst die Fähigkeit, zu etwas Gediegenem sich heranzubilden, abgeht. So lange das russische Theater aus dieser Menschenclasse seine neuen Glieder anwerben muss, wird es einen bedeutenden Fortschritt nicht zu machen im Stande sein. Erst wenn die sich immer weiter verbreitende Bildung auch die niedern und die mittleren Kreise der russischen Bevölkerung durchdringt, wenn jährlich eine den Bedürfnissen entsprechende Masse von wohl erzogenen und tüchtig gebildeten Menschen aus den russischen Lehranstalten hervorgehet, wenn die mancherlei Vorurtheile der Aristokratie gegen das Russische verschwinden und sich allseitig eine innigere Theilnahme und ein lebendigeres Interesse für das Nationale zu regen anfangen wird: erst dann darf auch die russische Bühne ihre vollständige Umwandlung und Verjüngung erwarten, erst dann darf sie hoffen, dass sie der russischen Nation das wird, was den andern Nationen ihre Schaubühnen sind. Bis dahin aber bleibt sie ein Ort, in dem man sich versammelt, um sich von den Tagesgeschäften zu erholen, um einen Abend angenehm und unter Scherz und Lachen zuzubringen, wenn man eben nichts Besseres zu thun hat.

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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 33. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/44&oldid=- (Version vom 14.9.2022)