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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

selbst in den letztgenannten Ländern noch eine sehr junge Wissenschaft, welche einer vollständigen Consolidirung und einer systematischen Organisation noch entgegen sieht. Erwägt man nun hiezu, welchen ungeheueren Modificationen die von der Wissenschaft aufgestellten Grundsätze in ihrer praktischen Ausführung schon in den westeuropäischen Ländern unterworfen sind; nimmt man hiezu die Mannigfaltigkeit des Bodens, den plötzlichen Wechsel des Wetters, das unbeständige Klima, und alle jene äusseren Einflüsse, welche in Russland herrschend jede Theorie zu Schanden machen: kann man sich da wundern, dass die sogenannte „rationelle Oekonomie“, welche man mit solcher Hast in dem ganzen weiten Reiche einführen wollte, mit eben solcher Schnelligkeit in vollständigen Misskredit gerathen ist? dass sie die russischen Oekonomen fast nur spottweise nennen und sich gewaltige Stimmen von allen Seiten gegen sie erheben? So heisst es in einem solchen Artikel, der die Arroganz der Lehrer der neuen „europäischen“ Methode mit gehöriger Kraft zu paren treibt: „Bis auf diesen Augenblick stützt sich unsere agronomische Gelehrsamkeit in jeder Beziehung auf die Theorie, welche man im Auslande aufgebaut hat. Wie können wir annehmen, dass diese Theorie, in die Praxis eingeführt, allgemein nützlich sein könnte für uns und für jenes (das Ausland) zugleich, da ja doch der Zustand unserer Wirtschaften, unsere Capitalien, unser Clima, der Preis der Producte und die davon abhängige landwirtschaftliche Berechnung, welche nun doch einmal den Angelpunkt des Ackerbaues, der Viehzucht und der Landwirtschaft überhaupt bildet, in jedem Punkte gänzlich abweichen von denen des Auslandes?“ — Den wichtigsten Einfluss auf das Wachsthum der Feldfrüchte übt die Temperatur, welche in Russland verhältnissmässig viel stärker einwirkt als in Westeuropa. Das Klima Russlands ist unter gleichen Graden viel rauher und unfruchtbarer, als im Westen; der Wechsel der Temperatur viel häufiger und schneller, als dort; endlich ist die Hitze viel drückender und die Kälte viel vernichtender, da sie beide immer allzu lange anhalten. Dagegen aber kann die Theorie nicht schützen, weder mit meteorologischen Tabellen, welche immer nur das gewesene Wetter anzeigen, noch mit Thermometern und Barometern, von denen man nur ein Paar Stunden das Wetter voraus sehen kann. Unter diesen Umständen kann die bisherige Weise der agronomischen Theorie für Russland nur von geringem Nutzen sein; dazu müssen erst die weitsichtigsten Untersuchungen und Beobachtungen angestellt, die ausgedehntesten Erfahrungen gemacht werden; erst dann wird man es wagen dürfen, die Gesetze der Theorie mit den nothwendigen Modificationen practisch auszuführen; denn die ganze ökonomische Wissenschaft stützt sich auf Erfahrung, und ohne Erfahrung ist eine glückliche Theorie unmöglich.

 Hiezu kommt für die russischen Agronomen noch eine besondere Schwierigkeit. Die Naturwissenschaften wurden zwar von der Akademie bereits seit einer langen Reihe von Jahren mit allem Ernste bearbeitet, und einzelne Akademiker haben sich auch ausserhalb Russland Ansehn und Ruhm erworben. Wie aber in Russland bis auf diesen Augenblick in allen geistigen Angelegenheiten überhaupt fast durchweg ein der Nation fremder Geist sich herrschend zeigt; so macht wohl auch das Studium der Naturwissenschaften immer grössere Fortschritte; aber die nationeile Cultur hatte davon nur geringe Vortheile; denn ihre Bearbeitung geschah und geschieht zumeist in fremden Sprachen, und so ist man denn nach jahrelangen Arbeiten nicht ein Mal dahin gekommen, selbst in den Wissenschaften, die am gründlichsten und am ausgebreitetsten bearbeitet wurden, eine durchgreifende, dem Genius der russischen Sprache entsprechende, dem gegenwärtigen Höhepunkt der Bildung angemessene Nomenclatur zu besitzen. In dieser Hinsicht sind die Czechen den Russen weit vorangeeilt; während dort gelehrte, mit allen Hülfsmitteln ausgerüstete Akademien und Staatsinstitute ihre Kräfte vergeblich anstrengten, schufen hier, wie wir in dem vorhergehenden Artikel zeigten, einige wenige Privatmänner, geführt von der ächten Liebe zur Wissenschaft und geleitet von der edlen Begeisterung für die Nationalsache ohne alle Unterstützung von Oben, nur auf sich selbst und ihren energischen Patriotismus gestützt, in wenigen Jahren

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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 44. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/55&oldid=- (Version vom 11.9.2022)