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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

die ganze Literatur auf der Seite der Opposition, wobei sie über jeden Schritt der Regierung ein drohendes Schweigen beobachtete. Kaiser Alexander, dem ganz Europa Weihrauch streute, war nicht im Stande, einen einzigen Lobredner in Russland zu erkaufen; die öffentliche Stimme hätte einen jeden solchen vernichtet. Unter diesen Umständen erhob sich mitten aus der Opposition eine Stimme, welche in Kurzem alle andern übertäubte und eine neue Epoche in der Entwickelung Russlands begann. Es war die Stimme Puschkins.

 Das erste von diesem Dichter herausgegebene Gedicht (so heisst es im zweiten Bande von Mickiewicz’s Vorlesungen über slaw. Literatur S. 217.) athmete finsteren Jacobinismus, einen bitteren Hass gegen alles Bestehende, gegen ganz Russland. Im Augenblick wurde der Name Puschkin das Losungswort für alle Unzufriedenen; von Petersburg bis nach Odessa und in den Kaukasus hinein verbreitete man seine Ode an den Dolch; sie ward in alle Sprachen übersetzt, welche die Völker Russlands redeten, und in allen Kriegslagern gesungen mit bebender Begeisterung, obgleich sie keinen Vorzug, keinen Reiz an sich hatte, als den, dass jeder in ihr sein eigenes Gefühl wieder fand. — In welcher Weise er die freieren Ideen der Gegenwart auffasste, zeigt unter andern folgendes Gedicht, dessen Uebersetzung uns von Herrn Wolfsohn im Manuscript mitgetheilt wurde:

Ein Fremdling, will ich heilig weihen
den alten heimathlichen Brauch:
ein Vögelein will ich befreien
bei stillem, heitern Lenzeshauch.


Nun will ich mich dem Trost ergeben,
nicht murren über Gottes Lenken;
nun ich ein Wesen fand im Leben,
dem ich die Freiheit konnte schenken.

 Die Literatur war damals in vollständigen Verfall gerathen; man lehrte sie noch in den Schulen, lernte ihre Regeln nach den Büchern ein, aber im Leben verschwand und verkümmerte sie allmählig mehr und mehr. Jetzt war sie plötzlich zum neuen Leben erwacht. Lomonossow und vor allem der alle Ruhmes satte und mit allen Gnaden überschüttete Derźawin erwarteten gewiss nicht, dass einst derselbe Puschkin sie der Vergessenheit überliefern würde. Allsogleich traten nun die neuen Dichter Źukowski, ein Mann mit grossem Talente, und Batjuschkow, in die zweite Reihe zurück; man lobte ihre Form und ihre Poesie, sie waren beliebt, aber sie erregten keine Begeisterung. Puschkin allein entzündete alle Herzen seit dem Augenblicke, wo er das kaiserliche, von Franzosen geleitete Lyceum verlassen. Seine Erziehung war in Hinsicht der classischen Wissenschaften etwas vernachlässigt, allein er hatte vieles gelesen, besonders französische Werke; er las auch die Schriften Źukowski’s, welcher auf die altslawische Poesie hinarbeitete; über alle aber erhob und verherrlichte er Lord Byron. Byron entzündete in ihm das poetische Talent. Von nun an wiederholte er alles, was er in der russischen Literatur vorfand. Er schrieb Oden in demselben Tone, aber weit besser als Derźawin; er ahmte das Altrussische nach, wie Źukowski, aber übertraf ihn an Vollendung der Form und besonders an der Grösse seiner Schöpfungen. Endlich warf er sich auf die Bahn Byrons; von ihm nahm er den innern Bau und die Sicherheit seiner Gedanken. Die Helden Puschkins erinnern an Lara, den Corsaren, und andere in den Dichtungen des genialen Britten bekannte Figuren.

 Es ist das der unfreiwillige und nothwendige Gang der Ereignisse. Ein jeder Schriftsteller muss erst die Schulen durchmachen, die ihm vorangegangen; er muss erst eine Zeit lang auf den Wellen der Vergangenheit kämpfen, ehe er in die Zukunft hindurchdringt. Puschkin ward bei seiner Nachahmung Byrons, selbst ohne nur daran zu denken, auch ein Nachahmer Walter Scott’s; damals sprach man überall von einem örtlichen Colorit, von dem historischen Elemente, von der Nothwendigkeit, wie man die Geschichte in die Poesie und den Roman hineinbringen

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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/57&oldid=- (Version vom 24.9.2022)