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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

geneigt zu Reformen, originell ohne Gezwungenheit, mit kalter Besonnenheit und heftigem Sinn.“ Gerade so war Puschkin. Und wenn er wieder den Dichter beschreibt, so schildert er nur seine eigenen Zustände. Jener Russe, der in Deutschland erzogen worden, lange Haare trägt, ein Verehrer von Kant und Schiller ist, und ein Enthusiast ohne Ziel und Gegenstand, ein Träumer, der über den Ausdruck Ideal mit der Feder in der Hand einschläft: so malt er damit eine ganze Periode seines eigenen Lebens. Ja was noch sonderbarer ist, er hat in diesem Gedichte sogar die Art seines Todes vorher verkündigt: wie der junge Wladimir sank auch er von der Hand seines Freundes im Zweikampf wegen einer Kleinigkeit. — Der Hauptgedanke des ganzen Gedichtes ist der Widerspruch gegen Alles, was Mode, was guter Ton der Gesellschaft heisst. Zwei Helden Puschkins, wahre Herzensfreunde, schlagen sich mit einander nur aus der einzigen Ursache, weil der eine von ihnen sich vor der Meinung seines französischen Lakais fürchtete und weil der andere einem hohen Beamten einen Gefallen machen wollte, welcher auf dem Lande lange Weile empfand und gern eine Zerstreuung durch einen Zweikampf gehabt hätte, um so durch seine Theilnahme an demselben die Leute von sich reden zu machen. Die beiden Frauen endlich erliegen ebenfalls der Herrschaft des Salons. — So ist Puschkins Onegin.

 Wir wollen uns hier nicht ferner aufhalten mit den lirischen und dramatischen Dichtungen Puschkins, auch wollen wir nicht herausziehen, was in demselben charakteristisch Slawisches, Volksthümliches ist; denn unser Ziel ist vielmehr das Band zu entdecken, welches zwischen der slawischen und den andern europäischen Literaturen besteht, um so den Hauptcharakter und den der einzelnen Literaturen aufzufassen.

 Während Puschkin in aller Ruhe seine Gedichte schrieb, brachten seine Freunde eine Verschwörung gegen die russische Regierung zu Stande. Je weniger die Details derselben in Europa bekannt sind, desto mehr Veranlassung haben wir, hier etwas mehr davon zu sagen. — Zwei waren die Feuerheerde, von welchen die Verschwörung ausging; der eine war in Petersburg, der andere in Süd-Russland, mit welchem letzteren auch Polen in Verbindung stand. Man trieb die Sache fast öffentlich und was ewig denkwürdig bleibt, ist, dass Niemand von den Verschworenen ein Verräther ward. Mehr als 500 Personen verschiedenen Standes, verschiedenen Ranges und verschiedener Gemüthsart gehörten thatsächlich zu der Verschwörung, welche unter den Augen einer wachsamen und argwöhnischen Regierung zehn Jahre lang fortdauerte, und doch gab es keinen Angeber in ihr. In Petersburg versammelten sich viele Officiere und Beamte in Wohnungen, die nach der Gasse gingen; man berathschlagte bei offenen Fenstern und dennoch kam die Polizei nicht hinter den Grund dieser Zusammenkünfte. Die öffentliche Meinung war mächtiger als die Furcht vor der Regierung. Bei solchen berathschlagenden Versammlungen ging die allgemeine Meinung der Verschworenen dahin, man müsse die Regierung stürzen und selbst die ganze kaiserliche Familie ausrotten. Man sang Lieder des schauderhaftesten Inhalts und zeichnete alles in einem so rohen, finnischen und mongolischen Charakter, dass selbst die Polen, welche sich unter der Gewalt der Russen befanden, nicht im Stande waren, sie ohne Entsetzen zu hören, obgleich sie soviel unter derselben Regierung gelitten hatten. Aber am Ende wusste man nicht, womit oder in wessen Namen man anfangen solle. „Was werden wir auf der Gasse schreien?“ fragte einer von den Verschworenen, womit er vortrefflich die Schwierigkeit des ganzen Unternehmens bezeichnete. „Was sollen wir dem Volke sagen, damit es uns verstehe? Sollen wir rufen: Es lebe die Freiheit? Wir haben keinen Ausdruck dafür; unser Wort „Swoboda“ bedeutet nicht das, was Freiheit in den westlichen Ländern heisst; Swoboda ist bei uns die Zeit der Ruhe, der Erholung, der Zerstreuung. Oder sollen wir schreien: Es lebe die Constitution? Wer wird uns verstehen, was das ist Constitution?“ — Man ist nicht im Stande, mit einem Blick zu übersehen, welche tiefe Wahrheiten in diesem Worte lagen. Trotz dem beschäftigte man sich ernstlich mit dem Losbrechen; man legte weite Pläne vor, holte den Rath der deutschen

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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 48. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/59&oldid=- (Version vom 26.9.2022)