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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

ihren Unterricht empfangen? Ich frage, kann Jemand, der die Geschichte Karamzin’s nicht gelesen und seinen Styl nicht kennen gelernt hat, kann er mit Recht Anspruch machen auf den Namen eines Schriftstellers, oder in den gelehrten Kreis unserer jetzigen Literaten gehören wollen? — Ja, Karamzin wird noch lange unser Lehrer bleiben in der russischen Prosa, er ist der erste Künstler und Meister in ihr, wie Puschkin im russischen Verse. Um den gegenwärtigen Zustand unserer Sprache aufzufassen, muss man von den Arbeiten dessen beginnen, dessen Namen die gegenwärtige Periode führt. Diese Untersuchung überzeugt uns, dass gegenwärtig immer noch die von Karamzin aufgestellten Grundsätze entwickelt werden, mit Hinzugabe vielleicht eines neuen Zeichens, welches aber nur die Folge der Richtung ist, welche er der Sprache gegeben; anderseits aber lernen wir auch einsehen, dass die von Karamzin in den letzten Jahren seines Lebens aufgenommenen Grundsätze eine allzugrosse Vernachlässigung finden.

 Der Hauptgrundsatz in der Entwickelung unserer Sprache ist bei allen unsern Schriftstellern immer noch die Annäherung der Schriftsprache an die Umgangssprache; wem gehört nun dieser Grundsatz ursprünglich an? Einige Journalisten schrieben, von ihrem Stolze verleitet, eitel genug diese Erfindung sich selbst zu; allein sie konnten nur jene Leser täuschen, denen die Geschichte der russischen Literatur unbekannt war. Karamzin war der erste, welcher es zu einem Gesetze des russischen Styls erhob, „zu schreiben, wie man spricht“; aber er setzte auch gleich die nothwendige Warnung hinzu: „und sprechen, wie man schreibt.“ Jene Journalisten, welche die Idee Karamzin’s für ihr Eigenthum erklärten, verderbten seinen Grundsatz dadurch, dass sie blos die erste Hälfte desselben annahmen. Die gegenseitige Annäherung der Schrift- und Umgangssprache gründet sich auf die gegenseitigen Rechte der einen wie der andern; auf Seiten der Umgangssprache steht der Ursprung des Lebens und aller Bewegung, auf Seiten der Schriftsprache der Ursprung des Geschmackes und jeglicher Kunst, gebildet durch das Gefühl des Schönen und die vernunftmässige Idee. Die Schriftsprache schöpft ihr Leben, ihr Material aus der Umgangssprache, aber dafür giebt sie dieser Geschmack, Schönheit und Idee zurück. Die Umgangssprache gehört Allen und Jedem, die Schriftsprache ist das Eigenthum einiger Auserwählten, die berufen sind, für ihre Nation zu denken und die innerliche Ahnung derselben auszusprechen; diese Auserwählten sind die Schriftsteller. Karamzin war der Erste, welcher den wahren Zusammenhang der Schrift- und Umgangssprache begriff und die nothwendige gegenseitige Abhängigkeit derselben feststellte; dies ist die erste That, welche ihm Niemand absprechen wird. — Der zweite Grundsatz, nach welchem sich die russische Sprache gegenwärtig entwickelt, ist die Annäherung derselben zu jenen europäischen Sprachen, welche in ihrer Construktion das Sprechen mit der Schrift verbinden und in dem Sprechen eine einfache und natürliche Ordnung einhalten. In dieser Hinsicht sind wir die klügsten Eklektiker. Die Deutschen überragen uns durch die Idee: und wir athmen nur deutschen Geist, fühlen mit der deutschen Philosophie und Poesie, und haben sie zu unsern Führern in der Wissenschaft erwählt; wir nehmen ohne Unterschied die Termini an, welche unserer Sprache durch sie zufliessen. Aber trotz dem unterliegen die Formen unserer Sprache, der Charakter der russischen Ausdrucksweise, nicht im Geringsten dem deutschen Einflusse; ja er ist uns sogar zuwider. In dieser Hinsicht halten wir es bei Weitem mehr mit jenem Volke, dessen Art zu denken am wenigsten Einfluss hat auf die unsrige. In der That, es ist eine merkwürdige Erscheinung, dass wir deutsch denken und französisch uns ausdrücken; das spricht zum Vortheil für unsern guten Eklektismus und gibt uns die Hoffnung, dass wir endlich auch noch dahin kommen, russisch zu denken und zu sprechen. Wer war es nun wieder, der zuerst unsere Schriftsprache mit diesen europäischen in Verbindung brachte? Derselbe Karamzin. Er erhielt die Sprache aus den Händen Lomonosow’s in Gestalt einer langen Periode nach lateinischem Masse zugeschnitten und in eine rhetorische Figur verwandelt. Diese Form stand der deutschen viel näher, als den übrigen europäischen Sprachen. Bei Karamzin nun erschien die

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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 53. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/64&oldid=- (Version vom 5.10.2022)